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Abschied von den Eltern - HS 2009

Der Abschied von den Eltern ist eine von jeder Generation, ja von jedem Einzelnen je wieder neu zu bewältigende Erfahrung. Es ist aber auch ein immer wieder neues Thema der Literatur.

Am ersten Abend, am 27. Oktober, zeigen  der Autor Christoph Geiser, Lilian Studer als Literaturkritikerin und Lektorin (Limmat Verlag) und ich als Literaturwissenschaftler in kurzen Statements und im gemeinsamen Gespräch,  weshalb dieses Thema für uns von je besonderer Bedeutung ist.

An den folgenden Abenden lesen Autoren und eine Autorin Texte zum Zyklusthema aus einem oder verschiedenen Büchern, immer aber unter einem speziell auf diesen Anlass bezogenen Titel und entsprechender Auswahl.

Franco Supinos Titel Abschied und anderes Leben  könnte als Motto auf alle seine Bücher bezogen werden. Schon sein erstes Buch  Musica leggera gilt der Suche des Secondo nach der eigenen Identität. Es ist aus der doppelten Distanz und Nähe seiner Figuren zwischen der Kultur, in der sie aufgewachsen sind, und der Kultur der Herkunft der Eltern geschrieben. Es geht um die schicksalhafte Frage, ob er oder sie ins Land der Eltern zurückkehren oder hier bleiben sollten. Sein letztes Buch Das andere Leben (2008) ist nicht nur die Geschichte des Abschieds einer Tochter von ihren Eltern, sondern, da ihr Vater,  der Schweizer Dramatiker Cäsar von Arx ist, auch ein Dokument der Schweizer Literatur und der Schweizergeschichte.

Reinhard Jirgl hat in seinem ersten, dem Mutter Vaterroman (1990), die Krisen der Eltern und der Kinder der „Wiederaufbaugeneration“ in der DDR der vierziger und fünfziger Jahre beschrieben. In seinem in diesem Jahr erschienenen großen Roman Die Stille erzählt er anhand der Bilder eines Photoalbums die Geschichte zweier Familien und mit ihr eine  Kultur- und Mentalitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Dieses Photoalbum der Großmutter soll der mit dem Sohn entzweite Vater dem nach Amerika auswandernden Sohn übergeben. Der Text vermag die Genese des historischen wie des individuellen Unglücks so sensibel darzustellen, dass die Lesenden dank der Erkenntnis der dargestellten Kindheits- und Verhaltensmuster verstehen, weshalb Jirgl den Titel Nacht ist auch eine Sonne gesetzt hat.

In ganz anderer Weise versteht es Sibylle Lewitscharoff, Erkenntnis und Lust aus finsterem Stoff zu gewinnen: Landhass und Vaterhass sind verquickt, der Hass zum totalitären Staat und zum autoritären Vater. Sie erzählt mit unwiderstehlichem Witz und Humor die Geschichte zweier Schwestern bulgarischer Herkunft. Sie sind in Süddeutschland aufgewachsen, lassen sich von ihrem bulgarischen Chauffeur Apostoloff auf dem Weg zur Beerdigung ihres Vaters und weiterer Exilbulgaren durch ihr von der jüngeren Schwester gehasstes, von der älteren Schwester geliebtes, von ihrem Fahrer verklärtes Vaterland fahren. Der Abschied von den Eltern wird hier zum satirisch geschilderten Gerichtsfall über das Unglück, das ein Vater und sein Land über diese Töchter gebracht haben.

Josef Winkler hat in seiner Romantrilogie Das wilde Kärnten (Menschenkind, Der Ackermann aus Kärnten, Muttersprache) das äußere und innere Labyrinth eines nicht zum Landwirt bestimmten Bauernbuben in archaischem Milieu zu gestalten versucht, um damit, an Mutterland und Vatersprache verzweifelnd, zu überleben.

In dem letzten Buch Roppongi – so heißt der Stadtteil Tokios, in dem sich Winkler auf Lesereise befand, als er den Tod seines Vaters erfuhr – schrieb er ein Requiem auf den Toten, in dem ihm, dank der Begegnung mit anderen, japanischen und indischen Kulturen eine neue Sprache und ein gutes, fast zärtliches Wort für den zuvor gefürchteten und gehassten Vater gelingt: „Mach’s gut, Vater...“.

Christoph Geiser hat in seinen frühen Romanen (Grünsee, Brachland) die Emanzipation von seiner großbürgerlich-patrizischen Familie gestaltet, in den folgenden Büchern die Genese seiner geschlechtlichen  Identität literarisch durch die Darstellung sexueller Phantasmen im Kontext historisch-kultureller Größen von Caravaggio bis zum Marquis de Sade dargestellt. Sein neuestes, in diesem Jahr erschienenes Buch Der Angler des Zufalls enthält kürzere Texte, Schreibszenen wie Geiser sie nennt. Ihnen allen eignet eine ganz neue Eleganz und Leichtigkeit der Sprache, nicht nur dem darin enthaltenen Schlusstext Wie auf Wolke 7, diesem freilich in ganz besonderem Maß. Speziell für uns, für den 1. Dezember, schreibt er den jetzt noch nicht vollendeten Text Schöne Bescherung.

Urs Widmers Bücher der Eltern, Der Geliebte der Mutter und Das Buch des Vaters, ergänzen und konterkarieren sich gegenseitig und lassen das Leid der dazwischen stehenden Figur des Schreibenden, der Abschied nimmt, im ersten Buch nur zwischen den Zeilen, im zweiten nur in wenigen Sätzen ahnen. Trotz einiger Übereinstimmungen mit den Biographien der Eltern des Autors sollten die komplexen Erzählstrukturen beachtet und die Texte nicht als Schlüsselromane gelesen werden, sondern als mit Humor gestaltete, von erlebter Erfahrung distanzierte Gestaltung eines Abschieds von den Eltern.

Abschied von den Eltern - Herbst 2009 (pdf, 67KB)