Schuld und Schulden HS 2017

Businessman mit Stein
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Angesichts der europäischen und globalen Schuldenkrise  beschäftigt das Thema der kollektiven Unternehmens- und Staatsschulden, aber auch der privaten Überschuldung die verschiedensten Disziplinen. Strategien, wie  einzelne der „Schuldenfalle“ entkommen können, werden ebenso intensiv diskutiert wie solche zur Entschuldung von Staaten. In der Vorlesungsreihe wird die Ideen- und Alltagsgeschichte von Schuld und Schulden im Zusammenhang mit aktuellen Krisen und Lösungsansätzen thematisiert.

Beiträge aus diversen Fachgebieten wie der Psychologie, Volkswirtschaft, Soziologie, Theologie und Geschichte werden eine kritische Auseinandersetzung bieten, um ein möglichst umfassendes Verständnis der Problematik zu ermöglichen.

Vorlesungen der Reihe «Schuld und Schulden»:

Staatsverschuldung: Probates Mittel der Wirtschaftspolitik oder potentieller Krisenherd?

  • Prof. Dr. Laura Rischbieter
    Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Konstanz
  • 20. September 2017

Ob Staatsverschuldung ein probates Mittel moderner Regierungstechniken ist oder doch vornehmlich internationale Wirtschaftskrisen verursacht, darüber streiten sich die Experten seit der Frühen Neuzeit unversöhnlich. Der Vortrag führt erstens in die ganz unterschiedlichen Interpretationen über die ökonomischen Auswirkungen der Staatsverschuldung bis in unsere Gegenwart ein, um in einem zweiten Schritt anhand eines historischen Überblick zu diskutieren, ob die öffentliche Verschuldung als mögliche Ursache von oder probate Strategie gegen internationale Wirtschaftskrisen gesehen werden kann.

Willensfreiheit, Schuld und Recht: Eine philosophische Perspektive

  • Prof. em. Dr. Reinhard Merkel
    Strafrecht und Rechtsphilosophie, Universität Hamburg
  • 27. September  2017

Haben wir einen freien Willen, die meisten von uns jedenfalls und manchmal immerhin? Bedeutsam ist die Frage für unser Handeln. Nur dann, so die allgemeine Überzeugung, kann eine Handlung frei sein, wenn dies auch der Willensentschluss gewesen ist, der sie ausgelöst hat. Und nur in einem solchen Fall kann der Handelnde für sein Tun verantwortlich sein.

Was heißt aber hier „frei“? Geläufig ist die Auskunft, frei sei die Entscheidung zu einer Handlung nur dann, wenn der Handelnde sich auch anders hätte entscheiden können. In der philosophischen Diskussion heißt dieser Freiheitsbegriff „Prinzip der alternativen Möglichkeiten“. Nun haben Handlungsentscheidungen ihren Ursprung im Gehirn und die von ihnen ausgelösten Körperbewegungen als das physische Substrat von Handlungen ebenfalls. Gehirne sind aber physikalische Systeme. Sie folgen, heißt das, in ihrem Ablauf den Regularitäten von Naturvorgängen („Naturgesetzen“), die vom Menschen nicht gemacht und nicht beeinflussbar sind. Jeder Gehirnzustand, so scheint es daher, folgt aus jedem unmittelbar vorhergehenden Zustand mit naturgesetzlicher Notwendigkeit. Ein freier Wille, der in diesen Ablauf intervenieren und solche Zustände beliebig abändern könnte, scheint hier keinen Platz zu haben. Das Prinzip der alternativen Möglichkeiten scheint also falsch zu sein.

Schuld, Strafe, Strafvollzug im Wandel. Ein statistisch-historischer Zugang

  • Dr. Daniel Fink
    Bundesamt für Statistik & Kriminologie, Lausanne
  • 04. Oktober  2017

Eine Schuld – nach Duden unter anderem als strafbares Verfehlen definiert – steht in unmittelbarer Nachbarschaft zur richtigen, angedrohten oder ausgesprochenen Strafe, und diese wiederum zum Strafvollzug. Während sich die Mehrheit der Rechtsgelehrten mit rechtswissenschaftlichen und dogmatischen Fragen von Schuld, Strafe und Strafvollzug beschäftigen, geht es in diesem Beitrag um den gesellschaftlichen Wandel der mit diesen Begriffen bezeichneten Institutionen. Dazu wird insbesondere auf die Strafurteils-, Gefängnis- und Strafvollzugsstatistik zurückgegriffen. Die historischen Datenreihen legen den Schluss nahe, dass, mit wenigen Ausnahmen, alle „grossen Verbindlichkeiten“ im Strafrecht dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen sind und heutige Schuld, Sanktionierung und Strafvollzug dem gestrigen in den Grundlagen zwar gleicht, jedoch nicht mehr dieselben sind. Besondere Beachtung kommt dabei der seit 2007 eingeführten Geldstrafe als Hauptsanktion zu, deren Bedeutung stets zunimmt. In einem grösseren theoretischen Rahmen – Weber, Elias, Foucault – interpretiert, handelt es sich um eine langfristig sich durchsetzende Modernisierung und Zivilisierung des Strafens, also um einen historischen Prozess, an dessen Verlauf weder kleine noch grosse Reformen Grundlegendes zu ändern vermögen.

Individueller Umgang mit Schuldgefühlen

  • Prof. em. Dr. Brigitte Boothe
    Psychologisches Institut, Universität Zürich
  • 11.Oktober 2017

Schuldgefühle sind schwer zu ertragen. Wie kann man ihnen standhalten? Wie kann man sie überwinden? Und was, wenn man nicht in der Lage ist, sich ihnen zu stellen? Dann werden sie ins Unbewusste verdrängt und / oder man findet kunstvolle Ausreden oder greift zu „alternativen Fakten“. Auch wenden wir uns im Vortrag der Frage zu, was ein gutes Gewissen und was ein korrumpierteres Gewissen ist.

Ökoschulden und Wert(er)schöpfung: Eine Frage der politischen Steuerungsfähigkeit

  • Dr. Florence Metz,
    Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern
  • 18. Oktober  2017

Was sind Ökoschulden? Wer profitiert von ihnen und wer sind die Leidtragenden? Der Vortrag widmet sich diesen Fragen am Beispiel der Klimaerwärmung in der Schweiz. Des Weiteren zeigt der Vortrag auf, dass sowohl Individuen wie auch Marktmechanismen begrenzte Fähigkeiten haben, das Problem der Ökoschulden zu lösen. Schliesslich widmet sich der Vortrag der Frage des staatlichen Handelns und diskutiert aus politikwissenschaftlicher Perspektive die Schweizer Klimapolitik: Wie stark soll der Staat intervenieren und welche Instrumente stehen ihm dabei zur Verfügung? Wo sind die Grenzen staatlicher Handlungsfähigkeit?

Kreditwesen im Spätmittelalter

  • Prof. Dr. Gabriela Signori,
    Mittelalterliche Geschichte, Universität Konstanz
  • 25. Oktober  2017

Kredite, Schulden und Wachstum

  • Dr. Fritz Zurbrügg,
    Schweizerische Nationalbank, Bern
  • 01. November  2017

Eine ausreichende  Kreditvergabe ist die Grundlage für Wachstum und Wohlstand. Die Finanzkrise hat aber deutlich gemacht, dass eine übermässige Verschuldung von Haushalten, Unternehmen oder Staaten zu wirtschaftlicher Instabilität und bedeutenden Einkommens- und Vermögensverlusten führen kann. Wie wirken sich staatliche und private Schulden auf die Wirtschaftsentwicklung aus? Wo liegt die Grenze zwischen einer nachhaltigen Kreditvergabe und einer übermässigen Verschuldung? Welche Rolle spielen dabei die Zentralbanken? Diese Fragen sollen in der Vorlesung vertieft beleuchtet werden.

Geld und Gaben als Beziehungsmittel

  • Prof. Dr. Heinzpeter Znoj,
    Institut für Sozialanthropologie, Universität Bern
  • 08. November 2017

Geld wird gewöhnlich als reines Tauschmittel betrachtet, das für liquidierende Transaktionen verwendet wird, d.h. dass es der Transaktion von Gütern und Leistungen zwischen ökonomischen Subjekten dient, die zuvor und danach in keiner Beziehung stehen müssen. So lange solche liquidierenden Transaktionen nicht beglichen sind, bestehen Schulden, welche eine als belastend empfundene hierarchische Beziehung konstituieren.
Ich werde argumentieren, dass Geld nicht nur in Gesellschaften ohne Staat und ohne Markt als Beziehungsmittel entstanden ist („primitives Geld“ bzw. soziale Währungen), sondern auch heute noch in vielen Praktiken dazu gemacht wird. Ich werde dabei auf die Beispiele Lokalwährungen und Trinkgeld eingehen. Ich verstehe diese Geldpraktiken als kollektiven Versuch, die trennende und vereinzelnde Praxis liquidierender Geldtransaktionen zu kompensieren und damit einer Logik des Austausches zum Ausdruck zu verhelfen, die unsere marktwirtschaftliche Praxis unterdrückt und entwertet, die aber nach wie vor im zwischenmenschlichen Umgang spontan entsteht.
Im ersten Teil werde ich soziale Währungen diskutieren.
Im zweiten Teil werde ich Gaben und Geschenke differenzieren.
Im dritten Teil werde ich beziehungsstiftende alltägliche Geldpraktiken analysieren.
In den Schlussfolgerungen werde ich diskutieren, was die Analyse von Gaben und Geld als Beziehungsmittel für unser Verständnis von Schulden bedeutet.

Das Drama des verschuldeten Menschen - Shakespeare, Ibsen, Dürrenmatt

  • PD Dr. Daniel Cuonz,
    Lehrstuhl für Deutsche Sprache und Literatur, Universität St. Gallen
  • 15. November 2017

Seit der internationalen Finanzkrise von 2008 ist ein zuvor wenig beachteter Verwandter des Homo oeconomicus in den Fokus des allgemeinen Interesses gerückt: der Homo Debitor, der Mensch, der so rettungslos verschuldet ist, dass er durch seine Schulden in seinem ganzen Menschsein bestimmt wird. Die spätkapitalistische Schuldenwirtschaft scheint maßgeblich davon zu profitieren, dass der verschuldete Mensch im Lauf der Zeit gelernt hat, sich für seine Schulden moralisch schuldig zu fühlen. Es liegt daher auf der Hand, dass in Anbetracht der zunehmenden Verschuldung einer zunehmenden Anzahl von Menschen auch neue Sichtweisen auf das Verhältnis von Schuld und Schulden dringend nötig sind. Dazu braucht es jedoch nicht nur neue Formen von ethischer Phantasie und ökonomischer Kreativität, sondern auch eine unverbrauchte Sprache, in der beides zueinander finden kann.

In dieser Hinsicht können sich die aktuellen Debatten über die Lebensform des verschuldeten Menschen möglicherweise von der Literaturgeschichte weiterhelfen lassen. Denn die Thematisierung der Frage, wie sich Schuld und Schulden ineinander verschieben, einander überlagern oder aufeinander verweisen, gehört zu bemerkenswertesten Langzeitprojekten der neuzeitlichen Literatur. Vor allem in der Geschichte des Dramas, vom Anbruch der Moderne bis ins historische Vorfeld der Schuldenkrise unseres Jahrhunderts, spielen Szenarien der Rückgewinnung von Handlungsspielräume, die in einem Leben in und mit Schulden verloren gehen, eine aufschlussreiche Rolle. Mit William Shakespeare, Henrik Ibsen und Friedrich Dürrenmatt werden in dem Vortrag drei Autoren zur Sprache kommen, die das Drama des verschuldeten Menschen an den neuralgischen Punkten seiner Geschichte maßgeblich geprägt haben.

Verschuldung erlaubt? Integrative Aspekte der Jugendverschuldung

  • Dr. Christoph Mattes,
    Hochschule für Soziale Arbeit, FHNW Basel
  • 22. November  2017

Verschuldung bei Jugendlichen ist nicht als grundsätzlich problematisch zu verstehen, sie ist Bestandteil jugendkulturellen Alltags und übernimmt dort vielfach integrative Funktionen. Verschuldung als Alltagskultur zu verstehen erfordert aber, zwischen einer unproblematischen und einer problematischen Verschuldung zu unterscheiden: Ab welcher Höhe, Gläubigerzahl oder in welchen Zusammenhängen ist Jugendverschuldung dann doch problematisch? Worin liegt die Herausforderung für die Akteure der Schuldenprävention, der Alltäglichkeit der Jugendverschuldung zu begegnen?

Schuld und Vergebung im Christentum. Ein theologischer Prospekt

  • Prof. Dr. Georg Pfleiderer,
    Systematische Theologie/Ethik, Basel
  • 29. November  2017

Schuld und Vergebung sind zentrale Themen im Neuen Testament und im Christentum. Zumindest die Theologiegeschichte des Westens seit der Antike liesse sich ohne grosse Pressung als Geschichte der variationsreichen denkerischen Entfaltung dieser Thematik schreiben. Der Vortrag geht dieser These nach und fragt, wie diese Konzentration des Christentums auf die Schuld- und Vergebungsthematik - und darauf gerichtete theologische Deutungsmodelle - aus heutiger Sicht zu bewerten sind. Gehört die Liaison von Schuld und Vergebung zu den theologischen Beständen, von denen unter aufgeklärten Bedingungen "notwendige Abschiede" zu vollziehen sind, oder spielen heutige Zeitsignaturen einer solchen Fokussierung  des Christentums sogar eher (wieder) zu? Wie könnte eine zeitgemässe Konzeption von Schuld und Vergebung aussehen?

Schuld, Schuldfähigkeit und Rückfallprävention aus Sicht der Forensischen Psychologie

  • Dr. Bernd Borchard,
    Bereich Risiko- und Interventionsabklärungen, Amt für Justizvollzug, Zürich
  • 06. Dezember  2017

Strafe setzt Schuld voraus und ein Täter wird dann nicht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, wenn er zum Zeitpunkt der Tat nicht schuldfähig war. Die Anordnung einer risikosenkenden Massnahme darf sich aber nicht einseitig an Fragen zu einer Verminderung der Schuldfähigkeit ausrichten. Schuldfähigkeit ist für Risikoeinschätzungen und die Durchführung rückfallpräventiver Interventionen in der Forensik ein untergeordnetes Konzept. Es gilt vielmehr, dass die Schuld eines Täters, das von ihm ausgehende Risiko, die Beeinflussbarkeit für risikosenkende Interventionen und eine möglicherweise diagnostizierte psychische Störung vier unterschiedliche und unterscheidbare Phänomene sind. Alle denkbaren Kombinationen dieser vier Phänomene sind im Einzelfall möglich und eine rechts- oder psychiatriedogmatisch begründete starre Verbindung dieser Ebenen ist in der forensisch-psychologischen Praxis nicht zielführend.

Debt Collection: The Emotional Work of Market Attachment

  • Dr. Joe Deville,
    Department for Organisation Work and Technology, Lancaster University
  • 13. Dezember  2017

Consumer credit borrowing – using credit cards, store cards and personal loans – is an important and routine part of many people's lives. But what happens when these everyday forms of borrowing go ‘bad’, when people start to default on their loans and when they cannot, or will not, repay? It is this poorly understood, controversial, but central part of the consumer credit industry that this talk explores. It draws on research from the interior of the UK debt collections industry, as well as debtors’ own accounts and historical research into technologies of lending and collection, to examine precisely how this ever more sophisticated, globally connected market functions. It focuses on the highly intimate techniques used to try and recoup defaulting debts from borrowers. The talk moves from the intrusion of collections technologies into debtors' homes and everyday lives, to the tools and techniques developed by collections organisation seeking to recoup their funds. In the process Deville shows that in order to understand how individuals are 'attached' to credit markets, we need to better understand the role played by the strategic management of debtors' emotional states.