Universität für alle Collegium generale

Walter Benjamin FS 2019

Walter Benjamin

Der international wohl bedeutendste Absolvent der Geisteswissenschaften an der Universität Bern, Walter Benjamin, promovierte vor 100 Jahren mit einer Studie zum Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Anlässlich dieses Jubiläums betrachtet die Vorlesungsreihe des Collegium generale den vielseitigen Komparatisten und Kulturkritiker, Geschichtsphilosophen und Medientheoretiker von seinen Berner Anfängen her – vom Exil des jüdischen

Berliners in der Schweiz und seiner Beschäftigung u.a. mit Robert Walser. Und sie fragt nach Benjamins Aktualität – als Schriftsteller der modernen Grossstadt, als politischer Denker und als Zeuge der Katastrophe.

Vorlesungen der Reihe "Walter Benjamin":

Walter Benjamin Heute

  • Prof. Dr. Vivian Liska
    Departement für Literatur, Universität Antwerpen
    6. März 2019

Walter Benjamin ist einer der bedeutendsten, einflussreichsten und auf die vielfältigste Weise besprochenen Denker des zwanzigsten Jahrhunderts. Dieser einführende Vortrag geht dem Ursprung der Tragweite seines Denkens nach und hebt jene Aspekte seines Werks hervor, die dessen Aktualität und die Vielfalt seiner Rezeption begründen. Besondere Aufmerksamkeit gilt den Debatten über die philosophische, politische und theologische Ausrichtung seines Denkens, die bereits in seinem eigenen Freundeskreis geführt wurden und bis heute zu regen Auseinandersetzungen führen. Anhand von konkreten Beispielen soll versucht werden, das heutige Erbe Walter Benjamins anhand einiger dieser Debatten nachzuzeichnen und auf diesem Wege zum Tragen zu bringen.

 

Wandern in Pudong. Neue chinesische Passagen

  • David Wagner
    Schriftsteller, Berlin
    13. März 2019

David Wagner erzählt eine Passage nach China: Er  geht in Shanghai spazieren, besucht Nicht-Orte und möchte sie erzählen. Er fährt Metro, Auto, Bus, Hochgeschwindigkeitszug und Magnetbahn - und läßt sich überall überwachen. Er wandert durch Malls und Parks und versucht die Monumente von Shanghai - der Stadt, die vielleicht jetzt schon die Hauptstadt des XXI. Jahrhunderts ist - „als Ruinen zu erkennen, noch ehe sie zerfallen sind.“ (Walter Benjamin)

Zur Vor- und Nachgeschichte des "Angelus Novus":
Palimpsest und Prophezeiung

  • Dr. Toni Hildebrandt
    Institut für Kunstgeschichte, Universität Bern
    20. März 2019

Ein "Kirchenvater der Marxisten"?
Walter Benjamin und seine Leser

  • Prof. Dr. Daniel Weidner
    Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt Universität; Stellv. Direktor, Zentrum für Literatur- und Kulturfoschung, Berlin
    27. März 2019

Walter Benjamins Werk ist heute zu einem Kanon der modernen Theoriebildung geworden. Nicht nur stehen seine Texte im Zentrum einer ständig wachsenden Forschung, sie werden auch in den verschiedensten Kontexten diskutiert und zitiert – und oft als Autoritäten aufgerufen. Um das zu verstehen, entwickelt der Vortrag verschiedene historische Modelle der (Selbst-)Kanonisierung, mit denen Benjamin sich auseinander-gesetzt hat: Goethe, die Deutsche Philologie und George. Die verschiedenen verstreuten Äußerungen Benjamins zu Kanon und Kanonisierung werden diskutiert und ihre Rezeption in der Nachkriegszeit nachgezeichnet, die Benjamins «Werk» auf  eine bestimmte Weise liest und damit die gegenwärtigen Formen der Lektüre vorbereitet. Schließlich bleibt zu Frage zu stellen, was das offensichtliche Bedürfnis nach einem solchen starken Autor über die Gegenwart sagt.

Walter Benjamin liest Robert Walser

  • Dr. Reto Sorg
    Robert Walser-Zentrum; Neuere Deutsche Literatur, Université de Lausanne
    3. April 2019

Walter Benjamins Essay Robert Walser  erwies sich für die Wirkungsgeschichte des Schriftstellers Robert Walsers als wegweisend. Der kurze, 1929 in der Zeitschrift Tage-Buch erschienene Text liest den damals nur Spezialisten bekannten Autor unter den Aspekten der formalen Diversität, der Sprachversessenheit, der Säkularisierung und der Scheu vor inhaltlicher Festlegung. Benjamins suggestive Darstellung trägt viel dazu bei, dass Walser zum Inbegriff jenes modernen Schriftsteller-Typus wird, der die Welt über das Gewöhnliche und Alltägliche begreift und dabei selbst unbestechlich am Rande bleibt. Weniger bekannt ist, dass Benjamin Walsers Schreiben insofern verwandt und verbunden ist, als seine Vorstellung der 'Fernen Nähe', die ihm zur näheren Bestimmung der 'Aura' des Kunstwerks dient, eine Metapher ist, die sich bei Robert Walser wiederholt findet, um die besondere Atmosphäre zu umschreiben, die mit der subjektiven Wahrnehmung der Dinge einhergeht.

Messianisches ohne Messianismus.
Mystik und Materialismus als Thema bei Benjamin

  • Dr. Sami Khatib
    Leuphana Universität Lüneburg
    10. April 2019

Der Vortrag fragt nach der materialistischen Lesbarkeit Benjamins Figur des Messianischen. In ihrer unhandlichen Inkommensurabilität gehört die sowohl mystische als auch materialistische Figur des Messianischen einem unabgegoltenen Denken der Modern an, das sich der vollständigen Historisierung in Geistes- und Kulturgeschichte widersetzt und genau darin eine unzeitgemäße Aktualität beweisen kann. Andersherum formuliert: Benjamins Aktualität besteht weniger in seiner Dauerkonjunktur in den Geistes- und Sozialwissenschaften denn in den Momenten seines Schreibens, die im besten Sinne unzeitgemäß geblieben sind. Um solch unhistorisierbare, nicht historistisch abzufertigende Momente des Vergangenen ging es Benjamins spätem historisch-materialistischen Begriff der Geschichte, der „die Witterung für das Aktuelle“ gerade dort aufnehmen wollte, „wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt[e]“ (GS I, 701). Die Wette des Vortrags lautet also, dass sich das Aktuelle Benjamins ebenfalls im „Dickicht“ seiner Texte aufspüren lässt – im Verfolg einer Denkbewegung, die den anachronen Kurzschluss disparater Gedankenpartikel sucht. Den Bezugspunkt dieser Lesbarkeit sucht der Vortrag in der Struktur, die Benjamins Gegenwart mit der unsrigen verbindet: die weltgeschichtliche Aktualität des Kapitalismus und seiner Produktions- und Herrschaftsverhältnisse. Was spricht bzw. verspricht die Figur des Messianischen im Zeitalter der kapitalistischen Reproduzierbarkeit von Zeit und Raum? In welcher Konstellation lässt sich der gegenstrebige Bezug des Messianischen zum Marxschen Denken darstellen?

"Die vernichtende Kritik muß sich ihr gutes Gewissen wieder erobern" – Walter Benjamin und die Möglichkeit der Kritik

  • Prof. Dr. Dr. Claus Beisbart
    Institut für Philosophie, Universität Bern
    17. April 2019

Walter Benjamin wird oft als Kulturkritiker rubriziert. In der Tat ist der Begriff der Kritik zentral für Benjamins Werk: Die Berner Dissertation untersucht den Begriff der Kunstkritik in der Romantik, Benjamin hat viele Buchkritiken verfasst und programmatisch über die Kritik reflektiert, und auch weitere Schriften und Fragmente wie etwa „Zur Kritik der Gewalt“ beziehen sich auf den Kritikbegriff. Was aber ist Kritik, insbesondere Kunst- und Kulturkritik? Woher bezieht sie ihre Maßstäbe? Welche Wirkung kann sie haben? Der Vortrag versucht, Benjamins Verständnis von Kritik herauszuarbeiten und selbst kritisch zu diskutieren. Dabei bezieht er sich auf Beispiele von Benjamins Kritikertätigkeit und seine theoretische Reflexion darüber.

Melancholie als Widerstand. Vom Flügeschlag des Schmetterlings am Abgrund der Katastrophe

  • Dr. des. Nassima Sahraoui
    Goethe-Universität Frankfurt
    1. Mai 2019

In dem Vortrag widmen wir uns der Frage, wie wir angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Lage mit Walter Benjamin noch Formen des Widerstandes denken können. Hierzu werden wir einige Begriffe, Motive und Figuren Benjamins kennenlernen und genauer analysieren, wie Melancholie oder auch die berühmte Figur des Flaneurs. Diese sollen vor dem Hintergrund von Benjamins Vorstellung von Geschichte und seinem Selbstverständnis als ‚historischer Materialist‘ erläutert werden. Könnte es sein, dass sich aus der Melancholie eine Praxis des Widerstandes ableiten liesse und vielleicht sogar eine Art ‚melancholische Revolte‘?

Ambulantes und Stationäres Denken: Reise und Exil in Benjamins Schreibformen

  • Prof. Dr. Alexander Honold
    Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Universität Basel
    8. Mai 2019

Der Philosoph, Literaturwissenschaftler und Kritiker Walter Benjamin war als ausgesprochener Großstadtbewohner und Büchermensch ein eher zögerlicher, melancholischer Reisender. Die Widrigkeiten des Unterwegsseins kannte und beschrieb er ebenso plastisch wie die enthusiastischen Gefühlslagen des Aufbrechens, Ankommens oder des Sich-Verlierens in einer fremden Umgebung.

Indem die Vorlesung den Reiseschriften, Tagebüchern, Essays und Städtebildern Benjamins besondere Aufmerksamkeit schenkt, zeigt es diesen Autor unter den Bedingungen einer mobilen, rastlosen und unbehausten Existenzweise, die seinen Denkstil und seine Schreibweise auch bereits vor der Erfahrung des Exils kennzeichnen.

Die Universität von Muri – Benjamins Berner Anfänge

  • Prof. Dr. Oliver Lubrich und
    Prof. Dr. Michael Stolz
    Institut für Germanistik, Universität Bern
    15. Mai 2019

Den Abschluss der Reihe bildet ein Vortrag in der Villa Mettlen über Benjamins Anfänge in Bern: Wie kam es, dass ein Student aus Berlin, der einer der vielseitigsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts werden sollte, hier sein erstes Buch verfasste?

Walter Benjamin verbrachte zwei Jahre in Bern, er hatte 1918 seine Wohnung an der Thorackerstrasse 19 in Muri. Benjamin liess sich an der Universität Bern immatrikulieren, aber vom Studium war er offenbar unterfordert, er gründete zusammen mit seinem Berliner Freund Gerhard Scholem eine eigene Spass-Hochschule: die «Universität von Muri». In einem satirischen «Vorlesungsverzeichnis» führten sie ein Nonsens-Angebot mehrerer Fächer auf. Für die Theologie waren Lehrveranstaltungen über «Das Osterei. Seine Vorzüge und seine Gefahren» sowie zum «Paganismus von Papageno bis Paganini» vorgesehen; für die Philosophie eine «Theorie des freien Falls mit Übungen im Anschluß».

Im abendlichen Vortrag von Prof. Lubrich und Prof. Stolz werden die Satire der «Universität von Muri» und die Aufgabe der Intellektuellen aufgegriffen und vertieft.