Zeitgeist - HS 2010
Literatur als Seismogramm und Widerstand des Zeitgeists – das Thema fordert uns alle auf je verschiedene Art heraus, die Schreibenden, die Lesenden, aber auch die Kritik und die Wissenschaft. Prägt ein je verschiedenes Verhältnis zur Zeit die Qualität und Eigenart der Literatur und unterscheidet sie von bloßer Information? Inwiefern verändern Formen der Kommunikation und Institutionen des Literaturbetriebs die Literatur und bestimmen, was und wie überhaupt etwas dargestellt, gedruckt und verkauft werden kann?
Am ersten Abend, am 2. November, sprechen und diskutieren Ruth Schweikert als Autorin und für den Dialog zwischen Kunst und Öffentlichkeit engagierte Essayistin, Reto Sorg als Vermittler zwischen Autoren und Institutionen und ich aus literaturwissenschaftlicher Sicht über das Thema unseres Zyklus. Sie selbst, so hoffen wir, werden auch die Fragen der Lesenden einbringen.
Erica Pedretti hat auf meine Einladung spontan mit der Frage reagiert: Was mache ich mit dem Zeitgeist? Ihr Nachdenken und ihre Erinnerung der Wandlungen des Zeitgeists während vieler Jahrzehnte ist geprägt durch das ambivalente, das gespaltene Verhältnis des Menschen, der weiss, dass die Menschlichkeit sowohl unter zu wenig Offenheit gegenüber der Zeit wie unter der Überanpassung an den Geist der Zeit leiden und dass er deshalb in einer Gemeinschaft fremd bleiben – fremd genug heißt ihr neuester Titel – oder von ihr angenommen werden kann.
Ruth Schweikert bekennt, in literarischen und nicht-literarischen Texten als Zeitgenossin und „als die, die ich bin“ zu schreiben – darin ist beides, der Bezug zum Zeitgeist und zum Widerstand enthalten. Die Identität der Figuren ihrer ersten Romane, Augen zu (1998) und Ohio (2005), war gefährdet und brüchig. Ihre schon damals deutliche Eigenart, ihr Leben wie ihr Schreiben ständig kritisch zu reflektieren, verheißt aber ständige Verwandlung des Vergangenen. Sie hat für ihre Lesung den Titel Was bisher geschah? gewählt und damit auf den aktuellen, viel versprechenden Stoff ihres Schreibens verwiesen.
Der Büchnerpreisträger Martin Mosebach war lange ein Opfer des Zeitgeists, insofern es eine Zeit lang modisch war, stilistische Brillanz und Kenntnis der Tradition als konservativ, unkritisch und bürgerlich zu diffamieren. Dies konnte allerdings nur Lesern einfallen, denen das gepflegte Äußere des Autors nicht gefiel und die die Differenziertheit ironischen Stils nicht zu lesen vermochten. Inzwischen erfährt ein immer größerer Kreis von Lesenden dankbar, wie sehr diese Lektüre die Möglichkeiten der Wahrnehmung der inneren und äußeren Welten erweitert und wie oft dieser Autor eine Sprache findet für Erfahrungen, die wir empfinden können, aber nicht zu beschreiben vermöchten. Er wählte für seinen Abend das Motto Stillleben und Katastrophen. Sein in diesem Sommer erschienener Roman Was damals geschah ist zu Recht der große Gesellschaftsroman unserer Tage genannt worden.
Dank Lucas Cejpek, Autor, Theater- und Hörspielregisseur, und seiner Schwester, der in Bern wirkenden Schauspielerin Henriette Cejpek, haben wir die Chance, einem spannenden literarischen Ereignis, der Genese und der Aufführung eines Textes – Ihr Wunsch – beizuwohnen, der mit den Fragebögen sozialwissenschaftlicher Interviews begann. Lucas Cejpek hat 50 nach demoskopischen Kriterien ausgewählte Österreicher und Österreicherinnen nach ihren Wünschen befragt, die Texte sprachlich gestaltet und führt daraus exemplarische Texte im Dialog mit seiner Schwester unter dem Motto Die Wirklichkeit unserer Wünsche vor.
Mit seinem ersten Roman ist Roman Graf das Kunststück gelungen, einen durchaus unerfreulichen Charakter und ein von Grund auf verfehltes Leben kraft seiner Sprache so zu schildern, dass wir uns zugleich von ihm distanzieren und doch in diesem oder jenem Element Spuren des Eigenen im Fremden in humorvoller Selbsterkenntnis entdecken können.
Was machen wir mit dem Zeitgeist? Unsere Autoren und Autoren geben Antworten und Fragen an uns weiter, nie aber im Sinne des nur abbildenden Lackmuspapiers, sondern durch die Sensibilität ihrer Wahrnehmung und Darstellung geprägt und deshalb immer als Wahrnehmung und als widerständige Gestaltung des Zeitgeists.