Hochsprachen und Mundarten - HS 2008
Die Frage, für wie viele Sprachen in unserem Kopf Platz sei, ist ebenso entscheidend für die Beziehungen des einzelnen Menschen wie für die Existenz unserer schweizerischen Kulturen. Unser Programm beschränkt sich zwar auf deutsche Sprachen, dies aber bestimmt nicht, weil uns andere Sprachen nicht wichtig wären, sondern im Gegenteil, weil die Erfahrung zeigt, dass die gute Beziehung zu weiteren Sprachkreisen das differenzierte Verständnis der eigenen Sprache voraussetzt. Doch welche Sprache ist die „eigene“ Sprache? Wir sprechen Mundart und schreiben meist Schriftsprache. Dürrenmatt hat das Verhältnis des deutschschweizerischen Schriftstellers zu Dialekt und Hochsprache als Verhältnis von Muttersprache und Vatersprache beschrieben: „Das Schweizerdeutsche als seine Muttersprache ist die Sprache seines Gefühls, das Hochdeutsche als seine Vatersprache die Sprache seines Verstandes, seines Willens, seines Abenteuers.“ Andere Autorinnen und Autoren bestimmen das Verhältnis anders. Alle aber erfahren diese Spannung als zuweilen hemmenden, aber doch meist fruchtbaren, die Kreativität entbindenden Widerstand.
Am ersten Abend stellen Pedro Lenz, Beat Sterchi und ich das Konzept der Reihe in kurzen Voten anhand von exemplarischen Texten und gemeinsamer Diskussion vor. Lenz und Sterchi gehören, wie auch die später auftretenden Stauffer und Krneta, zur Autorengruppe Bern ist überall. Sie schreiben Mundartliteratur für die Bühne, aber auch Hochdeutsch für verschiedene Sparten, getreu ihrem Manifest: „Hier und heute werden viele Sprachen gesprochen. Sprachen schliessen sich nicht aus. In unseren Köpfen ist Platz für viele Sprachen.“
Tim Krohn, in Deutschland geboren, in Glarus aufgewachsen, ist es gelungen, eine „schwiizertütsch-hochdeutsche“ Kunstsprache zu erfinden, die alten Sagen aus den Schweizer Alpen historische und aktuelle Bedeutung verleiht, ohne jeden Anklang an biedere Heimatliteratur, dafür mit der Frische und dem Rhythmus gesprochenen Erzählens, das sein Vrenelis Gärtli zum Kultbuch werden liess.
Nora Gomringer ist die Tochter des berühmten Meisters konkreter Lyrik, Eugen Gomringer. Sie ist in der Schweiz aufgewachsen, hat in Amerika gelebt und in Deutschland studiert. Da wie dort in regem Kontakt zur Poetry-Slam-, zur Spoken-Word-Szene, hat sie längst ihren eigenen Stil der Performance-Poesie gefunden als eine Wortmusikantin, die ihren Sprachspielen eine magische Kraft zu verleihen vermag, wie sie früher dem Vortrag von Zaubersprüchen und Balladen eigen waren.
Der gemeinsame Auftritt des Schriftstellers Krneta, des Rappers Greis und des Musikers Jakob Apfelböck verbindet nicht nur drei auch einzeln höchst originelle Künstler, sondern auch ihre Künste zur mehrsprachigen, rhytmisch-klangvollen Literatur. Die Auswahl aus ihren Programmen ist speziell auf unseren Zyklus, auf unseren Abend am 18. November 2008 bezogen.
Roland Reichen hat mit seinem ersten Roman aufgrochsen Menschen eine Stimme gegeben, die weder Dialekt noch Hochsprache zu sprechen vermögen, sondern nur mit ohnmächtigen Versatzstücken beider Sprachen stammeln oder aufgrochsend verstummen. Er ist in Spiez aufgewachsen, ist Assistent an der Universität Bern und schreibt gegenwärtig in Berlin an seinem zweiten Roman. Mit Ausschnitten aus dem schon veröffentlichten und aus dem gerade entstehenden Text wird er mit Verständnis, Geist und Humor beklemmende Bilder von Orten schildern, wo das Hochdeutsch ins Straucheln gerät.
Am 9. Dezember stellen Beat Sterchi und Michael Stauffer Proben ihrer sehr verschiedenen Texte aber mit gemeinsamem Motto: Tütsch-Deutsch mit Stauffer und Sterchi vor. Analogien und Differenzen werden die Diskussion beleben. Sterchi betont stärker die Mundart und die Tradition. Er liess z.B. „d’Gotthäuf büecherwaut“ im Dialekt erstehen, er stellte aber nebst Szenen des modernen Alltagslebens auch ein grotesk-komisches Kabinett des Volksschriftstellers in „Schöndeutsch“ vor. Stauffers phantastische Texte erinnern an dadaistische und expressionistische Experimente. Er vermag so, auf verblüffend-bestürzende Weise das Abnormale im Normalen zur Sprache zu bringen. Beide sind Prosaautoren, Verfasser von Hörspielen und Theaterstücken, beide lieben es aber auch, als Performer aufzutreten.
Friedrich Achleitner ist schon als Mitglied der Wiener Gruppe mit Hans Carl Artmann, Konrad Bayer und Gerhard Rühm bekannt geworden. Er hat mit Artmann und Rühm Dialektgedichte des Bandes hosn rosn baa (1959) geschrieben und wirkte an Aufführungen des Literarischen Cabaretts der Gruppe mit. Er wurde dann als Architekt und Architekturkritiker berühmt, war 1983-98 Professor für Geschichte und Theorie der Architektur an der Hochschule der Künste in Wien, ohne auf literarische Arbeit zu verzichten. 1973 erschien sein Quadratroman, ein klassischer Text der Wiener Gruppe, 1991 seine Dialektgedichte kaas. In den letzten Jahren hat er mit witziger Kurzprosa beeindruckt, mit einschlafgeschichten (2003), wiener linien (2004) und und oder und (2006).