Carte Blanche Francesca Falk

Carte Blanche

Die Gegenwart als vergangene sehen

Von Francesca Falk

Wir sitzen seit Wochen in unseren vier Wänden fest. Wie bringen wir die eingeschlossene Zeit zum Fliessen? Erinnerungen erzählen ist ein Gegengift zum social distancing. Es ermöglicht die Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen und die Weitergabe von Wissen. Erzählte Erinnerungen sind selbstverständlich subjektiv und retrospektiv. Wie und was uns jemand erzählt, hat genauso mit der Gegenwart wie mit der erlebten Geschichte zu tun. Gerade dadurch wird aber auch Nähe geschaffen.

Mein Nonno hätte an diesem Ostersonntag seinen Hundertsten gefeiert. Er starb vor zwei Jahren. Erst als mein erstes Kind auf der Welt war, begann ich nach seiner Kindheit und frühen Jugend zu fragen. Vorher war für uns vor allem ein Thema interessant: Wie er als junger Mann für Zwangsarbeiten ins Deutsche Reich verschleppt worden war. Als ich ihn mit meinem damals einjährigen Sohn in den Sommerferien in Vizzola besuchte, war er ein über neunzigjähriges dürres Männchen, das sich selbst zu verschlingen schien. Doch mit unserem Besuch entwickelte er neue Lebenskraft. Das Bild, wie er übermütig mit meinem Sohn an der Hand tanzte, vergess e ich wohl nie.

Es war in diesem Sommer, als ich ihn zu seiner Kindheit und Jugend befragte. Er erzählte mir, wie er als erster in Fidenza eine Stromleitung in seinem Elternhaus installierte. Oder wie er sich schwere Verbrennung zuzog, als er sich als Kleinkind mit heissem Wasser verbrannte. Seine Mutter, die nur sehr kurz zur Schule ging, arbeitete von zuhause als Wäscherin, um die Familie durchzubringen.

Bei meiner Nonna mütterlicherseits und meiner Grossmutter väterlicherseits (mein Grossvater starb, als ich klein war) habe ich es verpasst, nach solchen Erinnerungen zu fragen. Es sind wenige Dinge, die meine Schweizer Grossmutter erzählte, ohne dass wir danach gefragt hätten. So etwa von ihrem Vater, einem Hufschmied, dem sie oft beim Beschlagen der Hufe helfen musste. Das «erklärte» ihre knochigen Hände und ihre Art und Weise zuzupacken, ohne Worte zu verlieren. Mit dem Aufkommen der Automobilindustrie verlor ihr Vater laufend an Kundschaft, was zu existenziellen Problemen führte. Er hatte seinen Kindern verboten während den Mahlzeiten zu reden. Ob dieses Sprechverbot eine individuelle Familienangelegenheit oder eine damals übliche Sitte war, weiss ich nicht. Aber ihre schwach entwickelte Fähigkeit, eigene Bedürfnisse zu artikulieren, sah ich danach in einem anderen Licht.

Wenn ich heute an meine Nonna denke, so sind es zwei Dinge, die sich in den Vordergrund drängen: Wie ich als Kind am Morgen in ihr Bett schlüpfte und wie wir uns stundenlang gemeinsam gesponnene Geschichten erzählten – und ihr Geruch. Ich vermute als Quelle dafür ein Körperpuder, das sie jeden Tag auftrug. Jahre nach ihrem Tod fand ich eine grüne Puderdose «Borotalco» in «ihrem» Badezimmer. Diese Dinge, bei denen die Spuren ihres alltäglichen Gebrauchs gegenwärtig bleiben, waren einfach noch da, als ob nichts geschehen wäre.

Im Moment erfahren wir die Zeit als stillstehend und rasend zugleich. Mit der Umstellung auf digitale Lehre erleben wir an den Universitäten gerade einen bemerkenswerten Veränderungsschub. Als ich vor 22 Jahren mein Studium begann, wurden die Räume der Lehrveranstaltungen noch zentral am Anschlagbrett verkündet. Doch nicht nur da zeichnen sich gegenwärtig Änderungen ab. Seit einigen Jahren geht in den zwei Universitäten, bei denen ich in den letzten Jahren gearbeitet habe, unter den Studierenden meines Faches die Nachfrage nach einem Auslandsemester zurück. Wie das zu deuten ist, vermag ich nicht zu sagen.

Was wir hingegen bemerken, ist, dass gegenwärtig einige das Gefühl haben, dass 2020 in Bezug auf Mobilität einen Wendepunkt darstellen wird. Pandemien veranschaulichen Verflochtenheit. Nun werden wir mit Begrenzungen konfrontiert, die wir in dieser Form nie gekannt haben. Werden diese veränderten Lebensweisen längerfristige Folgen haben? Üben wir mit Corona gezwungenermassen für die dringend anstehende Klimawende?

Ich bin Historikerin und keine Prophetin. Der Frage, ob Corona zu dauerhaften Verhaltensänderungen führen wird, werde ich in Post-Corona-Zeiten nachgehen. Gleichzeitig sind mir Vorstellungen, dass danach alles anders wird, wir sozusagen automatisch von unseren Sünden reingewaschen werden und ein neues Zeitalter beginnen wird, suspekt. Das Auto erlebt gerade ein Revival. Gleichzeitig können Krisen Katalysatoren für Veränderungen sein, im Guten wie im Schlechten. Deshalb müssen wir uns bereit machen für die Zeit «danach», die jetzt gerade beginnt.

Im jenem Sommer, als mir mein Nonno einige seiner Erinnerungen erzählte, meinte er mit ernster Miene: «Denke ja nicht, ich sei nicht weit gereist.» Im Vergleich zu meiner Generation würde das vielleicht so wirken. Ein Flugzeug habe er zwar für einen Rundflug über Altenrhein bestiegen, zu welchem er von meiner Mutter – seiner Tochter – eingeladen worden war. Aber, fügte er an, im Vergleich zu seinem Grossvater, der in seinem ganzen Leben nur wenige Kilometer weit kam, sei er sehr mobil gewesen. Was wird in fünfzig Jahren wohl weiter weg erscheinen: «Meine» Generation Easy Jet oder diese Erinnerung an eine Zeit, in der 20 Kilometer als Distanz wahrgenommen wurden? Bis vor kurzem erschien er mir jedenfalls undenkbar, dass mir der Weg von Ostermundigen an die Unitobler auf einmal als lang erscheinen könnte.

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