Forderung und Überforderung der Wissenschaft 

Von Jonas Wittwer

Mitten im Schreiben meines Antrags an den Schweizerischen Nationalfonds für mein PhD-Projekt häuften sich die Meldungen bezüglich der Ausbreitung von SARS‑CoV‑2. Ich nahm diese Nachrichten nur am Rande auf, da mich das Verfassen des Antrags vollends einnahm. Meine primäre Sorge war, dass ich in der sich anbahnenden Krise in der für mich so wichtigen Tätigkeit unterbrochen werden könnte oder dass Claus Beisbart und Kathrine Dormandy, welche meine Arbeit betreuen, die versprochenen Feedbacks nicht mehr rechtzeitig geben könnten.

So richtig greifbar wurde die Krise zum ersten Mal in meiner Tätigkeit als Fachmann Gesundheit. Das Pflegezentrum, für das ich in einem kleinen Pensum tätig bin, beschloss schon sehr früh den Zugang für Externe zu sperren und wir wurden angehalten, noch stärker als sonst auf Hygiene zu achten. Ein neuer und noch anspruchsvollerer Pflegealltag, für den ich meine Kolleg*innen sehr bewundere, hatte begonnen. Zeitgleich wurde das Thema auch in meinem wissenschaftlichen Umfeld immer prominenter. In den Gruppenchats von reatch - research and technology Switzerland häuften sich die Links zu Zeitungsartikeln und Studien. 

In der letzten Februarwoche ging es dann richtig los. Die ersten Fälle in der Schweiz wurden kommuniziert und alle meine Chats liefen heiss. Mehrere Mitglieder von reatch organisierten kurzfristig einen Informationsanlass mit dem Epidemiologen Marcel Salathé, bauten eine Covid-19 Informationsseite auf und suchten überall noch nach Helfer*innen. Spätestens jetzt war klar, dass die nächsten Monate, wenigstens für mich als Wissenschaftler, deutlich anders verlaufen würden als geplant. 

Plötzlich ging es Schlag auf Schlag. Innerhalb von kurzer Zeit mussten wir diverse Events und Sitzungen neu organisieren oder absagen. Parallel zum Schreiben des Antrags verfolgte ich diese Veränderungen und versicherte allen Betroffenen, dass ich mich so rasch als möglich um dieses oder jenes kümmern würde. Mir stellte sich vorerst eine viel wichtigere Frage: Sollte ich wenige Tage vor der Abgabe die Struktur des Antrags nochmals anpassen, damit noch offensichtlicher werden würde, wie sehr meine geplante Forschung den Nerv der Zeit trifft? So will ich mich in meiner Arbeit darauf fokussieren, wie Lai*innen mit dem Wissen von Expert*innen umgehen sollten und welche moralischen Pflichten sie gegenüber Expert*innen haben. Es wäre wohl nur wenig Aufwand gewesen, die bereits gewählten Fallbeispiele noch etwas expliziter auf Covid-19 zu münzen. Ich verzichtete schliesslich darauf, liess es mir aber nicht nehmen, an einer Stelle etwas prominenter darauf hinzuweisen, dass Infektionskrankheiten schon seit meiner Bachelor-Zeit ein wichtiger Teil meines Interessensgebietes seien und im Kontext von Seuchen das Verhältnis von Lai*innen und Expert*innen eine besondere Relevanz habe. 

Das Thema SARS‑CoV‑2 ist aus wissenschaftsphilosophischer Sicht hochinteressant und löste in mir deutlicher als zuvor den Wunsch aus, aktiv zu werden, da sich an Covid-19 viele meiner Überlegungen besser denn je vermitteln liessen. Die Rolle von Expert*innen im aktuellen Diskurs ist zwar eine andere als die beim Klimawandel. Trotzdem sind die Parallelen da und zudem sind viele Leute unmittelbar betroffen. Vielleicht können wir also jetzt grundlegende Gedanken zur Wissenschaft besser verständlich machen als zuvor. So scheint mir jetzt auch der optimale Zeitpunkt, um zu zeigen, welche immense Bedeutung in der interdisziplinären Arbeit steckt. Dass nicht nur Wissenschaftler*innen der Hard-Sciences hier einen Beitrag leisten können oder vielmehr sollten, sondern auch wir Geisteswissenschaftler*innen und besonders die Wissenschaftsphilosophie und die soziale Erkenntnistheorie. Doch wie können wir dieses Ziel erreichen? 

Wie schwierig es ist, zeigte sich mir immer wieder in meiner Tätigkeit ausserhalb des engen akademischen Umfelds, in dem ich mich sonst bewege. Es wurde überdeutlich, wie sehr viele Leute mit den Zahlen, welche ihnen täglich an den Kopf geworfen wurden, überfordert sind. Wie unverständlich es sein kann, dass eine Zahl zugleich sehr gross und sehr klein ist. Dass es eben nicht genügend Covid-19 Betroffene gibt, um persönlich jemand zu kennen, der erkrankt ist, aber eben doch mehr als genug, dass wir es hier mit einer ernsten Krise zu tun haben. Dass hinter einer Pandemie kein verborgener Plan steckt, sondern dass diese genauso zu unserem Leben gehören wie Erdbeben oder andere Naturkatastrophen. Ich merkte, wie sehr ich hier scheiterte und wie sehr ich auf eine Sprache angewiesen bin, welche im akademischen Umfeld wohl funktionieren mag, sich aber ausserhalb als praktisch unverständlich erweist. Wie sehr die Diskursregeln eben doch andere sind und wie rasch ich versucht war, nur noch autoritär zu argumentieren. Der Graben zwischen Akademie und Aussenwelt wurde so spürbar wie noch nie zuvor und dies in einer Situation, wo sich alle mehr denn je darum bemühen müssten, diesen zu schliessen. Ein Schritt, der aber nicht nur unsere Aufgabe sein darf, sondern bei dem auch von Nicht-Akademiker*innen entsprechende Bemühungen erwartet werden. Denn wenn Erklärungen zu Statistiken an elementarem Grundlagenwissen zu Bruchrechnen scheitert, dann ist wohl spätestens hier unsere Verantwortung als Wissenschaftler*innen erschöpft.

Das Autoritäre zeigt sich auch an anderer Stelle. Gruppenchats, die ich in der Queer-Community betreute, waren auf einmal gefüllt mit (Fehl-)Informationen bezüglich SARS‑CoV‑2. Ich reagierte sehr genervt auf diese Ereignisse. Liegt es jetzt an mir, an dieser Stelle zu intervenieren? Gibt es keinen Bereich, wo ich mich nicht mit SARS‑CoV‑2 auseinandersetzen muss? Offensichtlich nicht. Nach mehrfachen Ermahnungen setzte ich klare Verhaltensregeln. Gerade bei den vorab aktiven Teilnehmer*innen, welche die Stimmung mit Fehlinformationen anheizten, sorgte dies für den erwarteten Protest. Dennoch: Meine Entscheidung blieb bestehen. 

Hier wird für mich noch ein anderer Punkt deutlich: Wir Wissenschaftler*innen sind jetzt in einer besonderen Verantwortung und wir sollten aufklären, wo immer dies möglich ist. Doch manchmal müssen wir wohl zum Schutz von uns selbst und anderer autoritär reagieren und klare Guidelines setzen. Es ist unbefriedigend und verstösst erheblich gegen meine Ideale, doch auch hier gilt es abzuwägen, ohne einem zynischen Utilitarismus zu verfallen. Vielmehr geht es eben darum, die Grenzen epistemischer Selbständigkeit und die Deutungshoheit epistemischer Autorität aufzuzeigen und umzusetzen.

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