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«Die Weiterbildung hat mir gezeigt, was mir bei der Betreuung von Menschen am Herzen liegt»

Mit 47 Jahren steht Andrea Müller in der Mitte des Lebens, die beiden Kinder sind schon bald erwachsen. Das gibt der diplomierten Intensivpflegefachfrau, die seit 22 Jahren auf der Intensivstation arbeitet, wieder mehr Raum für eigene Interessen. Dazu gehört auch die wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit den grossen Fragen des Lebens im Rahmen der neuen interdisziplinären Weiterbildung «CAS Spiritual Care».

Von Christine Valentin, 2016

Andrea Müller, Absolventin CAS Spiritual Care

Schon während des Gesprächs in der Küche von Andrea Müller, mit dem freien Blick auf die goldenen Verzierungen des Bundeshauses, aber auch nachher beim Schreiben dieses Textes, taucht immer wieder der gleiche Gedanke auf: Wenn ich einmal auf der Intensivstation eines Spitals landen sollte, dann wünschte ich mir für die Pflege jemanden in ihrer Art – warmherzig, offen, reflektiert, humorvoll und tiefgründig. Heute arbeitet die Bernerin, die mit ihrer Familie im Marziliquartier wohnt, mit einem 80-Prozent-Pensum auf der Intensivstation des Lindenhofspitals. Früher kümmerte sie sich lange Jahre im Berner Universitätsspital Insel um jene Patientinnen und Patienten, die gesundheitlich schwer angeschlagen sind und manchmal auch an der Schwelle zum Tod stehen. Seit Andrea Müller im Spital arbeitet, gehören das Leiden und das Kranksein, das Sterben und der Tod zu ihrem Alltag. «Im Beruf habe ich eine Nähe zu all diesen Themen, deshalb gelingt es mir auch nicht, sie einfach so auf die Seite zu schieben, bis sie mich, meine Familie oder meine Freunde selber einmal betreffen», so Müller. So erstaunt es nicht, dass sich die Intensivpflegefachfrau schon seit längerem mit den Sinnfragen des Lebens beschäftigt, die sich im Rahmen der Existenz stellen. Es sind die ganz einfachen Fragen, auf die kaum einer eine Antwort weiss, die sie nicht mehr loslassen: Sinnfragen zum menschlichen Dasein … Wo komme ich her, was haben wir in diesem Leben vor, wo zieht es uns hin? Auch die Auseinandersetzung mit ethischen Themen vertieft sie laufend. Deshalb ist sie sofort interessiert, als sie vor eineinhalb Jahren im «Bund» einen längeren Artikel über die Seelsorge des Inselspitals und ihre heutigen Aufgaben im Spitalalltag entdeckt: «Im Zeitungsartikel wurde auch der neue interdisziplinäre CAS Spiritual Care der Universität Bern vorgestellt», erinnert sich Müller «und das fand ich sofort spannend, die Diskussion zu diesen existenziellen Themen mit Menschen aus unterschiedlichen Berufsgruppen zu führen. Die berufliche Perspektive beeinflusst einen ja stark. Als Medizinerin oder Seelsorger hat man oft andere Ziele, andere Prioritäten oder Vorstellungen als ein Psychologe oder eine Hebamme – und der CAS Spiritual Care bietet genügend Zeit und Raum für den Austausch, um die gegenteiligen Meinungen im Gespräch zu ergründen.»

Lebens- und Existenzthemen

Doch es braucht noch etwas Zeit, ein paar finanzielle Überlegungen und technische Abklärungen, bis sie tatsächlich im September 2015 mit dem Studium startet. «Ich habe damals lange ‹gewärweisset›, weil die 9800 Franken Studiengebühr für mich viel Geld sind und mein Arbeitgeber diese Weiterbildung nicht mitfinanziert. Zudem habe ich keinen universitären Abschluss, es war also zuerst nicht klar, ob ich überhaupt zum Studium zugelassen werde. Doch die Möglichkeit, mich diesen Lebens- und Existenzthemen in einem anderen Rahmen als im persönlichen Umfeld zu stellen, hat mich einfach nicht mehr losgelassen.» Ihre Erwartungen an die Weiterbildung haben sich bisher erfüllt, sagt Andrea Müller im Gespräch und fügt gleichwohl hinzu: «Ich kann nicht sagen, dass ich messbar etwas gelernt habe – auch wenn das schon vorhandene Wissen, etwa in der Biografiearbeit, durch theoretische Inputs noch einmal vertieft wurde, was ich für mich sehr nützlich fand.» Jenseits der Messbarkeit hingegen ist bei Andrea Müller – durch die Diskussionen mit ihren ‹CAS-Gspänli›, in der Supervision, die zum Studiengang gehört, und bei der Auswahl des Themas für die Zertifikatsarbeit – die Suche nach der eigenen Spiritualität angestossen worden. «In jedem Modul entstanden im Prinzip mehr Fragen – und aus diesen Fragen wieder eine andere Frage und daraus folgten dann die nächsten Fragen. Die Weiterbildung hat Platz geschaffen, Fragen zu haben und diese auch zuzulassen – aber sie hat nicht zu endgültigen Antworten geführt. Und deshalb», so das Fazit von Andrea Müller, «sehe ich diese Weiterbildung inzwischen auch als Selbstpflege in meiner Persönlichkeitsentwicklung».

«Die Weiterbildung hat mir gezeigt, was mir bei der Betreuung von Menschen am Herzen liegt» (Andrea Müller)

Zeit – ein rares und kostbares Gut

Obwohl das Thema zu Beginn der Weiterbildung für Andrea Müller nicht im Zentrum stand, ist inzwischen die Frage nach einer beruflichen Veränderung aufgetaucht.Sie weiss zwar, dass sie im Spital am richtigen Ort ist, nach wie vor. Aber vielleicht wird Andrea Müller an einen Ort wechseln, bei dem sich das Pflegeverständnis an der Palliative Care orientiert: «Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich bis zu meiner Pensionierung auf einer Intensivstation arbeiten kann, dem unglaublich hohen Tempo und den vielen Neuerungen werde ich wohl nicht mehr gewachsen sein. Die medizinischen Forschung zu Spiritual Care Interventionen und die pflegerischen Aufgaben sind sehr anspruchsvoll und müssen dennoch – auch aufgrund des ökonomischen Drucks – immer schneller erledigt werden.» Doch damit hat Andrea Müller zunehmend Mühe: «Die Weiterbildung hat mir gezeigt, was mir fehlt oder besser, was mir bei der Betreuung von Menschen wichtig ist und am Herzen liegt. Die Patienten und Angehörigen auf der Intensivstation» fährt sie weiter, «befinden sich in unglaublich krisenhaften Situationen und sind mit existenziellen Fragen konfrontiert. Genau dort wäre es, im Sinn der Palliative Care, unbedingt nötig, dass man den Aspekten der Spiritualität Sorge trägt, den Menschen mit Mitgefühl begegnet, sich um sie sorgt. Doch Sorge braucht Zeit. Man muss die Zeit haben, mal einen Stuhl ans Bett zu nehmen und zu verweilen. Doch Zeit ist leider – nicht nur auf der Intensivstation – ein rares und kostbares Gut.»

Das Thema Seelsorge gehört zu den Schwerpunkten der Theologischen Fakultät der Universität Bern – und seit langem auch zu jenen der universitären Weiterbildung. So findet man etwa den Studiengang «Seelsorge im Straf- und Massnahmenvollzug» seit rund einem Vierteljahrhundert im Angebot der Weiterbildung.

Darauf aufbauend hat die Theologische Fakultät in den letzten Jahren diverse CAS-, DAS- und MAS-Studiengänge entwickelt, teilweise in Kooperation mit der Reformierten Kirche oder mit anderen Fakultäten. Das Angebot wird bei Bedarf erweitert. So startete etwa 2017 der neue CAS «Religious Care im Migrationskontext». 

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