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Jeremias Gotthelfs Image wird entstaubt

Mit dem Klischee des netten Heimatdichters wird aufgeräumt: Das Berner Gotthelf-Editionsprojekt hat heute die ersten acht Bände der historisch-kritischen Gesamtausgabe präsentiert. Sie zeigen Gotthelf als streitbaren Zeitgenossen, politischen Kommentator und Satiriker.

Jeremias Gotthelf haftet etwas Volkstümliches an, man kennt ihn als Heimat- und Bauernschriftsteller, der die gute alte Zeit beschreibt. Die von den beiden Berner Germanisten Prof. Barbara Mahlmann-Bauer und PD Dr. Christian von Zimmermann geleitete historisch-kritische Gesamtausgabe (HKG) deckt wenig bekannte Seiten des Schriftstellers und Pfarrers auf: Sie zeigt einen widersprüchlichen und streitbaren Gotthelf, der sich intensiv mit den damals brennenden Problemen auseinandersetzte und unermüdlich für bessere Lebensbedingungen kämpfte.

In der Heiliggeistkirche in Bern – einer der Wirkungsstätten von Albert Bitzius – wurde heute an einer öffentlichen Buchvernissage die Herausgabe der ersten acht Bände der Gotthelf-Gesamtausgabe gefeiert. Diese umfassen die theologischen, politischen und journalistischen Schriften Gotthelfs.

«Es ist an der Zeit, dass wir das reiche literarische Erbe Gotthelfs gebührlich pflegen und wieder zugänglich machen», sagte der Generalsekretär der Erziehungsdirektion des Kantons Bern, Robert Furrer. Furrer sprach in Abwesenheit des Berner Erziehungsdirektors Bernhard Pulver, der kurzfristig absagen musste. Es gelte dabei nicht nur die wohlbekannten Klassiker, sondern auch die weniger bekannten Schriften ins Bewusstsein zu rücken. Gotthelf verdanke zwar den Freilichttheatern oder legendären Gotthelf-Verfilmungen seine Popularität, aber: «Es geht halt nichts über das Original.»

Der Rektor der Universität Bern, Martin Täuber, gratulierte dem Editionsteam zu den neu herausgegebenen Bänden und dankte ihnen für die bedeutende und sorgfältige Arbeit: «Die Universität Bern ist stolz, dieses grosse und anspruchsvolle Projekt mitzutragen». Täuber erwähnte auch die Studienzeit Gotthelfs an der Universität Bern – und dass Bitzius hier nicht nur studiert habe: Er lancierte 1830 einen Aufruf an die Bevölkerung, sich gegen die Patrizierherrschaft aufzulehnen, und war einer der Anführer des liberalen Umsturzes, der 1831 zum Rücktritt der Patrizierregierung führte und das politische Mitbestimmungsrecht in der Verfassung verankerte. Es sei wichtig, so Täuber, sich auch mit den nicht-literarischen Texten dieses bedeutenden Berner Schriftstellers auseinanderzusetzen und diese zu erschliessen: «Nur so wird es möglich sein, das reiche Erbe des Pfarrers, Schriftstellers, Schul-reformers und kritischen Zeitgeistes Gotthelf zu verstehen und seine Bedeutung auch für die heutige Zeit abzuschätzen.»

Berner Herkulesaufgabe

Die Beteiligten haben sich dabei eine eigentliche Herkulesaufgabe vorgenommen: Rund 67 Bände sollen in einer Laufzeit von ungefähr 30 Jahren herausgegeben werden. Dabei soll mit dem unbekannten, zum Teil noch nie veröffentlichten Gotthelf angefangen werden, um eine Grundlage für das Erzählwerk zu schaffen. Der Generalsekretär der Universität Bern und Präsident der Jeremias-Gotthelf-Stiftung, Christoph Pappa, berichtete über die Anfänge des germanistischen Grossprojekts, die nicht einfach gewesen seien. Aber der Aufwand habe sich gelohnt, und die Resultate könnten sich sehen lassen. Pappa ist überzeugt: «Wohl werden die ‹Gotthelfs Zeiten› nach dieser Edition nicht mehr das sein, was sie einmal waren.»

An der öffentlichen Feier wurde auch ein «Making-of»-Film gezeigt, der in die germanistische Editionsarbeit einführte. Die Sprachkünstler Beat Sterchi und Adi Blum befassten sich mit Gotthelfs Texten, ein Gesangsquartett brachte selten gesungene Gotthelf-Motetten zur Aufführung. Die Projektleiter sprachen über ihre Entdeckungen und gaben einen Ausblick über den weiteren Verlauf der historisch-kritischen Gesamtausgabe.

Der Ort der Veranstaltung, die Berner Heiliggeistkirche, wurde nicht zufällig ausgewählt: Die Kirche war eine Station auf dem Weg von Jeremias Gotthelf. Hier arbeitete er 1829 als Vikar, bevor er 1831 nach Lützelflüh im Emmental zog, wo er bis zu seinem Tod 1854 als Pfarrer amtete.

Gotthelf jenseits der gängigen Klischees

Albert Bitzius alias Jeremias Gotthelf (1797–1854) versuchte tatkräftig und kritisch bei der Ausgestaltung der modernen Schweiz an der Schwelle zum industriellen Zeitalter mitzuwirken. Sein Anliegen war, Menschen zu selbstverantwortlichen Individuen und Bürgern auszubilden.

Die neue Gesamtedition – auf insgesamt 67 Bände im Lauf von etwa 30 Jahren ausgelegt – deren erste acht Bände nun erschienen sind, schliesst eine der grössten Lücken der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts. Sie ermöglicht, den grossen Berner Autor als Klassiker von Weltrang neben Keller, Heine und Stifter neu zu entdecken. Die umfangreichen Kommentarbände erläutern die Texte in ihrem historischen Kontext und bieten so auch einen fundierten Zugang zur Geschichte und Mentalität der Berner Regenerationszeit.

2005 hat der Berner Grosse Rat sechs Millionen Franken aus dem Lotteriefonds für die historisch-kritische Gesamtausgabe bewilligt. Das Editionsprojekt wird zusätzlich vom Schweizerischen Nationalfonds mit umfangreichen Projektmitteln unterstützt.

Die ersten Bände umfassen die vollständige Edition des von Jeremias Gotthelf redigierten und verfassten «Neuen Berner-Kalenders» (1840–45) in vier Bänden sowie die ersten Bände der Edition der politischen Publizistik (2 Bände), der Predigten (1 Band) und des Romans «Jacobs, des Handwerksgesellen, Wanderungen durch die Schweiz» (1 Band).

Jeremias Gotthelf. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben von Barbara Mahlmann-Bauer und Christian von Zimmermann. Olms Verlag, ca. 70 Bände. Leinen. 16,5x24,5 cm.

30.10.2012