«Berner Tagwacht» 1888 bis 1998 digitalisiert

Die «Berner Tagwacht», ihr Vorgängertitel «Der Schweizerische Sozialdemokrat» und die Nachfolgezeitung «Die Hauptstadt» sind seit Ende Mai online frei zugänglich. Der Verein «Zeitungsdigitalisierung im Kanton Bern» hat die rund 260'000 Seiten der historischen Ausgaben in Zusammenarbeit mit der Universitätsbibliothek Bern und der Schweizerischen Nationalbibliothek digitalisiert.

Die «Berner Tagwacht» wurde 1892 von der Arbeiter-Union Bern als Organ der Sozialdemokratischen Partei des Kantons Bern gegründet. Sie erschien ab 1893 bis 1997 und war Nachfolgerin der Zeitung «Der Schweizerische Sozialdemokrat» (1888–1892). 1998 wurde sie ein halbes Jahr lang als «Die Hauptstadt» weitergeführt.

Stimme der Arbeiterbewegung

Die Tagwacht erschien zuerst zweimal, ab 1906 sechsmal pro Woche. Sie war eine der wichtigsten publizistischen Stimmen der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie in der Schweiz. 1909 bis 1918 war Robert Grimm (1881–1958) Chefredaktor. Er machte die Zeitung innerhalb der Schweiz zum Kampfblatt der Linken, das auch international beachtet wurde. 1966 fusionierte sie mit der «Seeländer Volkszeitung», die seit 1920 in Biel erschienen war.

Die Tagwacht kämpfte immer mit knappen Finanzen und war mehrmals vom Konkurs bedroht, weil sie weniger Werbeeinnahmen generieren konnte als bürgerliche Zeitungen. Deshalb arbeitete sie ab den 1970er-Jahren im redaktionellen Teil mit anderen linken Zeitungen zusammen. Ende 1997 musste sie ihr Erscheinen wegen finanzieller Probleme einstellen, nachdem Parteizeitungen generell in die Krise geraten waren. Danach versuchte sie, als Wochenzeitung unter dem Titel «Die Hauptstadt» weiter zu bestehen. Dieser Versuch scheiterte 1998 allerdings bereits nach einem halben Jahr.

Wichtige Quelle für die politische Geschichte Berns und der Schweiz

«Die Tagwacht war eine der wichtigsten linken Zeitungen in der Schweiz und ist deshalb bis heute eine wichtige Quelle für die Berner und Schweizer Geschichte», hält Christian Lüthi, Historiker, Vizedirektor der Universitätsbibliothek und Leiter des Projekts Zeitungsdigitalisierung, fest. «Die Zeitung nahm immer pointiert Stellung zu aktuellen Ereignissen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft», erklärt Lüthi.

Eine weitere Million Seiten ist in Planung

Die 260‘000 Seiten stehen nun für wissenschaftliche Recherchen ebenso wie für Nachforschungen von privaten Interessierten auf e-newspaperarchives.ch bereit. «Zusammen mit den digitalisierten Zeitungen aus den Städten Bern, Biel und Thun sind mittlerweile über zwei Millionen Seiten von digitalisierten Berner Zeitungen online, die frei zugänglich im Volltext durchsucht werden können. Wir freuen uns, dass das Zeitungsarchiv rege genutzt wird», so Lüthi.

Der Verein «Zeitungsdigitalisierung im Kanton Bern» arbeitet derzeit daran, mit zahlreichen Geldgebern eine weitere Million Zeitungsseiten aus dem Kanton Bern zu digitalisieren. Dazu zählen u. a. die Burgdorfer Zeitungen (1831–2004). Bis 2024 soll neben anderen auch dieser Titel auf e-newspaperarchives.ch öffentlich und frei zugänglich sein.

Berichterstattung der Berner Tagwacht zu Ereignissen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft

1904: Flugblatt «Russland in Bern» und dessen Konsequenzen
Am 25.5.1904 berichtete die «Berner Tagwacht» über ein Flugblatt mit dem Titel «Russland in Bern», das die Textilarbeitergewerkschaft in Bern verteilte. Darin wurden die rüden Methoden von Alfred Werder geschildert, dem Sohn des Direktors der Spinnerei Felsenau. Ihm wurde vorgeworfen, er habe Arbeiter misshandelt und gewerkschaftlich organisierten Angestellten den Lohn verweigert. Das Flugblatt spielte auf die Menschenrechtslage in Russland an, wo Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Bauern oft mehr als Sklaven denn als Menschen behandelt wurden. Im Volkshaus fand darauf eine Protestversammlung statt, zudem debattierte der Stadtrat über die Vorfälle. Schliesslich verurteilte das Gewerbegericht Werder zu einer Busse wegen Tätlichkeit. (Berner Tagwacht, 25.5.1904, S. 1–2)

1938: Wahl der ersten Sozialdemokraten in den Berner Regierungsrat
Am 21./22. Mai 1938 wählten die bernischen Stimmbürger erstmals zwei Sozialdemokraten in die neunköpfige Regierung des Kantons Bern: Robert Grimm und Georges Moeckli. Die bürgerlichen Parteien überliessen den Linken freiwillig zwei Sitze. Im ersten Wahlgang wurden sieben bürgerliche Regierungsräte gewählt, im zweiten Wahlgang die zwei Sozialdemokraten. Robert Grimm war von 1909 bis 1918 Chefredaktor der «Berner Tagwacht» und führender Kopf im Landesstreik 1918. Georges Moeckli stammte aus dem Berner Jura. Hintergrund der freiwilligen Einbindung der Sozialdemokraten in die Berner Regierung war die internationale Lage mit der Bedrohung Europas durch die Nationalsozialisten in Deutschland. Die Titelseite der «Tagwacht» vom 23. Mai 1938 nahm so beispielsweise die Bedrohung der Tschechoslowakei durch Deutschland auf, währenddem über das Ergebnis der Regierungsratswahl erst auf Seite 3 informiert wurde.

1968: Einmarsch der sowjetischen Truppen in der Tschechoslowakei
In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 marschierten die Armeen der Sowjetunion und ihrer verbündeten Staaten Polen, Ungarn, Bulgarien und DDR in die Tschechoslowakei ein, um die reformkommunistische Regierung von Alexander Dubcek zu stürzen und wieder ein sowjetkonformes Regime zu installieren. Die «Tagwacht» kritisierte dieses Vorgehen und stellte fest, dass Moskau «Armeen gegen Ideen» aufgeboten habe. (Berner Tagwacht, 21.8.1968, S. 1)

Direktzugriff zu den digitalen Zeitungen

«Der schweizerische Sozialdemokrat»: https://www.e-newspaperarchives.ch/?a=cl&cl=CL1&sp=SSD
«Berner Tagwacht»: https://www.e-newspaperarchives.ch/?a=cl&cl=CL1&sp=TGW
«Die Hauptstadt»: https://www.e-newspaperarchives.ch/?a=cl&cl=CL1&sp=DHS

Digitalisierungen der Universitätsbibliothek Bern

Die Universitätsbibliothek Bern digitalisiert seit 2002 ausgewählte Drucke aus den eigenen Beständen und stellt sie ohne Zugangsbarrieren online zur Verfügung. Die meisten Digitalisate sind Bernensia. Dies gehört zum Auftrag der Universitätsbibliothek Bern als Kantonsbibliothek und verhindert, dass Publikationen weltweit doppelt digitalisiert werden. Die digitalen Daten sind auf DigiBern zugänglich oder auf den nationalen Plattformen E-Rara und E-Periodica. Seit 2016 wird auch die Sammlung Rossica Europeana der Schweizerischen Osteuropabibliothek digitalisiert.Die Universitätsbibliothek Bern baut dieses digitale Angebot laufend aus. Seit 2016 werden gemeinsam mit dem Verein Zeitungsdigitalisierung im Kanton Bern und mit Zeitungsverlagen rund drei Millionen Seiten aus den Städten Bern, Biel, Burgdorf und Thun sowie aus dem Berner Jura digitalisiert und auf der Plattform e-newspaperarchives.ch als Volltext zugänglich gemacht.

 

13.06.2023