Porträts Claus Beisbart, Extraordinarius mit Schwerpunkt Wissenschaftsphilosophie

Porträts

Wanderer zwischen Welten

Claus Beisbart ist Philosoph und Physiker. In der Corona-Krise könne die Philosophie helfen, wenn die Interaktion zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft debattiert werde, sagt der Wissenschaftsphilosoph und findet es legitim, dass man versucht, der Pandemie einen Sinn abzugewinnen.

Von Barbara Vonarburg

Er sei persönlich dankbar, dass er in den letzten Monaten weiter arbeiten konnte, sagt Claus Beisbart: «Anderswo konnten viele ihre Tätigkeit nicht mehr ausüben und mussten auf Kurzarbeit gehen.» Der Philosophieprofessor hat sich grosse Kopfhörer aufgesetzt und beantwortet die Fragen der Journalistin via Skype aus dem Homeoffice. Am Anfang der Corona-Krise habe er sich überlegt, ob er irgendwo helfen könne. «Aber ich hatte gar nicht die Zeit; der Uni-Betrieb hat online überraschend gut funktioniert.»

Beisbart befasst sich mit der Rolle der Wissenschaft in unserer Welt. In der Corona-Krise hat die Wissenschaft schon früh vor der Pandemiegefahr gewarnt, und vielleicht wird sie einen Impfstoff und Mittel liefern, mit denen wir die Krise bewältigen können. Derzeit versorgt sie uns mit Wissen, das wir für unser Handeln brauchen: Wie wird das Virus übertragen? Welche Langzeitfolgen kann eine Covid-Erkrankung haben? Dies wird wissenschaftlich untersucht, und die Erkenntnisse sollen in öffentliche Debatten und politische Entscheidungen einfliessen. «Doch in der Krisensituation ist die Arbeitsteilung zwischen der Wissenschaft und der Politik aus dem Gleichgewicht geraten, weil man plötzlich schnelle Entscheidungen treffen muss», erklärt Beisbart: «Manche haben den Eindruck, dass uns jetzt Virologen und Virologinnen vorschreiben, was wir im täglichen Leben tun haben.»

Wenn das Idealmodell versagt

Die Vorschriften greifen tief in das Leben der einzelnen Person ein. «Deshalb muss man präziser fragen, wo hört Wissenschaft auf und wo beginnt Politik», sagt Beisbart. Im Idealmodell liefert eine wertfreie Wissenschaft sogenanntes «Wenn-Dann-Wissen». Es gibt an: Wenn ihr dieses macht, dann erhaltet ihr jenes – vielleicht nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit. Ziele vorgeben oder zwischen unterschiedlichen Zielen abwägen sind im Idealmodell nicht Sache der Wissenschaft, sondern der Politik, welche ihre Entscheidungen auf der Basis von ethischen Werten treffen muss. «Jetzt sind wir im Krisenmodus», sagt Beisbart: «Da kann man das Ideal nicht mehr so umsetzen, und wir müssen überlegen, welche vernünftigen Alternativmodelle es gibt.» So wird beispielsweise diskutiert, in welcher Hinsicht die Wissenschaft politische Werte berücksichtigen könnte. Der Wissenschaftsphilosoph ist überzeugt: «Wenn wir über die Interaktion zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft nachdenken, kann die Philosophie helfen.»

Die Wissenschaftsphilosophie beschäftigt sich auch mit der Frage, wie Studien mit wissenschaftlichen Methoden begründet werden. Wie aktuell das Thema ist, zeigt die Auseinandersetzung um den Epidemiologen Christian Drosten, dem die deutsche «Bild»-Zeitung vorgeworfen hat, eine Studie nicht sauber durchgeführt zu haben. «Hier geht es um den richtigen Einsatz von Methoden», erklärt Beisbart: «Wissenschaftliches Wissen richtet sich im Allgemeinen nach hohen Begründungsstandards aus und muss sich erst mal gegen Kritik anderer Forschender bewähren. Jetzt wird aber gefragt, ob die Wissenschaft dadurch nicht zu langsam ist und ob man die hohen Massstäbe im Sinne der Krisenbewältigung etwas herabsenken kann.»

Claus Beisbart sieht sich selbst als Wanderer zwischen Welten. Er hat Physik und Philosophie studiert und in beiden Fächern promoviert. «Ich konnte mich lange nicht entscheiden, ob ich eine naturwissenschaftliche Karriere oder lieber Philosophie machen möchte», erzählt er. Der Wissensdurst nach dem Grundlegenden, nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, war Motivation für beide Disziplinen. Den Ausschlag gab schliesslich das Gefühl, dass er seine Fähigkeiten in der Philosophie intensiver nutzen konnte als in der Physik. «Das begriffliche Arbeiten liegt mir besser als das Rechnen mit Formeln», sagt er. Physikkolleginnen und -kollegen begegneten seiner Tätigkeit unterschiedlich. Manche hielten sie für ein komisches Hobby und nicht besonders nützlich, während andere fasziniert seien von den philosophischen Gedankengängen und gerne mitdiskutierten.

Die Philosophie kommt auch ins Spiel, wenn es um Sinnfragen geht, die aus der modernen Wissenschaft ausgeblendet werden. «Ich finde es legitim, dass man versucht, der Corona-Pandemie einen gewissen Sinn abzugewinnen», sagt Beisbart. Seiner Meinung nach zeige uns die Krise, dass wir in der Lage seien, grosse gesellschaftliche Veränderungen kurzfristig umzusetzen. Zudem mache sie erneut deutlich, wie der moderne Tourismus und die Ausbeutung der Natur zu Konsequenzen führten, die wir nicht mehr kontrollieren könnten. Es wäre aber komisch, das Auftreten des Virus wissenschaftlich damit erklären zu wollen, dass es uns auf einen bestimmten Punkt aufmerksam machen wollte.

Die moderne Wissenschaft ist kalt und rational

Zusammenhänge herstellen zwischen unterschiedlichen Aspekten: Darauf zielt nicht nur die Suche nach Sinn, sondern auch die Wissenschaft. Doch das wissenschaftliche Bild unserer materiellen Umwelt ist nicht mehr um den Menschen zentriert. «Die moderne Wissenschaft ist in gewisser Hinsicht sehr kalt und rational», sagt Beisbart: «Naturwissenschaftliche Erkenntnisse geben uns keine Orientierung im Handeln und keine Aufgabe.» Wohl deshalb würden viele Menschen, die durchaus der Wissenschaft vertrauen, zusätzlich an Pseudowissenschaften glauben. So versuche man beispielsweise in der Astrologie einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem persönlichen Leben und Planetenkonstellationen, die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nichts mit uns zu tun hätten.

Während der Philosoph in Zeiten von Corona praktisch unbeeinträchtigt weiterarbeiten konnte, wurde seine Freizeitbeschäftigung gestoppt. «Ich singe in einem Chor und wegen der Aerosole ist das ein Riesenproblem», erzählt er. Mitte Juni hätte der Chor in Bern und Zürich das Oratorium «Die Schöpfung» von Joseph Haydn aufführen wollen, doch die Proben und Konzerte wurden abgesagt. Und auch das Orchester, in dem Beisbart Bratsche spielt, kam nicht mehr zusammen. «Das Hobby ist zwar wunderschön, doch mit Schutzkonzept und Dauerlüften macht es nicht so richtig Spass», sagt er.

Dennoch kann er der Corona-Krise auch Positives abgewinnen und erzählt von den Prüfungen, die er diesmal in anderer Form durchgeführt hat als sonst. Normalerweise schreiben seine Studierenden nach der Einführungsvorlesung in theoretischer Philosophie eine Klausur. Weil dies über Internet wenig sinnvoll gewesen wäre, entschied sich der Professor für mündliche Prüfungen via Zoom. «Das war eine super Erfahrung,» zieht er Bilanz: «Im Uni-Alltag ist heute vieles anonymisiert; solche individuellen, zwanzigminütigen Gespräche sollte man öfters durchführen.»

Zur Autorin

Barbara Vonarburg ist freie Wissenschaftsjournalistin.