Porträts Aymo Brunetti

Porträts

«So etwas hat es noch nie gegeben»

Der Volkswirtschaftler Aymo Brunetti hat die letzte grosse Krise noch aus dem Inneren der Bundesverwaltung erlebt, als Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik im SECO. Nun bekommt der Berner Professor es bereits mit der nächsten Krise zu tun, die er diesmal aus grösserer, akademischer Distanz beobachtet.

 

Von Roland Fischer

Es ist vielleicht das Buch zum jetzigen Moment: Eva Horns vor ein paar Jahren erschienene, sehr lesenswerte kulturwissenschaftliche Analyse «Zukunft als Katastrophe». Es gibt darin einen Schlüsselbegriff für das Heute: Metakrise. Geprägt vom Politikwissenschaftler Claus Leggewie und vom Sozialpsychologen Harald Welzer, meint das Wort ein Krisenerlebnis, das sogleich in viele weitere Krisen zerfällt, wenn man es in den Griff zu bekommen versucht.

«Die Finanzkrise war vergleichsweise einfach»

Aymo Brunetti nimmt den Begriff selber nicht in den Mund, aber man muss zwangsläufig daran denken, wenn man ihm zuhört. Der Ökonom war schon mitten im Geschehen, als die Finanzkrise vor gut zehn Jahren die Welt in Atem hielt, damals noch als Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik im SECO. Nun sagt er, auf die mitunter ein wenig unübersichtliche Gemengelage an Expertenmeinungen angesprochen: «Die Finanzkrise war vergleichsweise einfach. Was jetzt passiert ist viel komplexer.» Alles viel schwieriger einzuschätzen, viel mehr Ebenen die betroffen sind, viele Sekundäreffekte. Und alles hängt mit allem zusammen. Mit anderen Worten: Auch Experten sind ein wenig ahnungslos, wo das alles hinführen könnte. Brunetti sagt, er gebe zwar gern seine Einschätzung zur Lage ab, aber man könne von ihm keine «sicheren Empfehlungen» erwarten.

Man muss schon genau hinhören, um in solchen Momenten ein wenig Unruhe in Brunettis Ausführungen zu spüren, den Rest des Gesprächs absolviert der Ökonom mit einer beneidenswerten Gelassenheit. Aber an diesem Punkt wird es doch ein wenig dramatischer: der Virus und was er für unsere ökonomische Situation bedeutet – ein «Schock». «So etwas hat es noch nie gegeben.» Die Schockwellen werden entsprechend noch lange zu spüren sein. Womöglich ja auch als positive Impulse hin zu einem besseren Umgang mit der Umwelt, hin zu einem nachhaltigeren, weniger exzessiven Wirtschaften? Krise als Chance, mithin? Da wächst die Unruhe dann fast ein wenig zur Gereiztheit, konfrontiert mit derlei Ideen, die ja momentan viel Konjunktur in den sozialen Medien haben. «Es lief doch alles gar nicht so schlecht in der Schweiz, vorher?» fragt er rhetorisch. Das amerikanische System zum Beispiel sei da viel schlechter (und unsozialer) aufgestellt. Die Unterschiede wird man in den Ausläufern der Krise nun sicher zu spüren bekommen.

Aktuelle Situation empfindet Brunetti als «intellektuell extrem stimulierend»

Aber dann lockert sich die Stimmung gleich wieder, man merkt Brunetti die Routine an, die er Medien gegenüber entwickelt hat. Die kommt ihm jetzt natürlich zugute, wo es wieder sehr viele Medienanfragen gibt. Er war schon vor Corona eine bekannte Grösse als Experte: «Journalisten kannten mich schon als einen, der sich sehr oft zu ökonomischen Fragen äussert». Und das mit grosser Eloquenz und auf verständliche Weise. Verglichen mit der Finanzkrise kann er es tatsächlich entspannter angehen – als Forscher, der das Geschehen aus gebührender Distanz beobachtet, hat er zu einem gewissen Grad einen neuen Status: «Ich bin nicht mehr direkt in einer verantwortlichen Position.» Es sei ein viel grösserer Stress gewesen, eine Krise aus dem SECO heraus einzuordnen, zu begleiten und für die Konzipierung von Massnahmen mitverantwortlich zu sein. Nun darf er ganz Analyst sein, darf Entwicklungen modellieren und Ursachen und Wirkungen identifizieren – die Leitfäden heraussuchen aus dem Gewirr an Zusammenhängen. Er empfinde die aktuelle Situation deshalb als «intellektuell extrem stimulierend». Immerhin in dieser Hinsicht sind Krisen natürlich immer Chancen: Sie exemplifizieren einiges, was sonst nicht so deutlich zutage tritt. Schon die Finanzkrise war ausserordentlich hilfreich für ihn als Akademiker, er habe sie genutzt im Unterricht, um ökonomische Zusammenhänge anschaulich zu machen. Wenn sich der Corona-Nebel ein wenig gelichtet hat, wird das bestimmt auch für die aktuelle Krise gelten.

Drastischer Strukturwandel in manchen Bereichen

Unterdessen geht für Brunetti der Lehr- und Forscheralltag weiter. Auch da schildert er mit fast schon stoischer Ruhe, wie radikal die Umstellung war: Statt jeden Tag drei Stunden zu pendeln vom ländlichen Baselbiet an die Uni in Bern und zurück, sitzt er nun zuhause vor dem Bildschirm. Die allermeisten Sachen liessen sich ja gut im Teleoffice erledigen, vom Recherchieren über das Koordinieren bis zur Lehre, inklusive Betreuung der Studentinnen und Studenten – «nicht, dass ich das eine wahnsinnig tolle Sache finde, aber es ist völlig okay für eine Phase». Der Ökonom weiss und betont natürlich auch, dass sich das für manche Teile der Wirtschaft nicht so einfach sagen lässt, die unmittelbar und existentiell betroffen sind: Restaurants, Läden, Selbständige. Das bekomme er durchaus auch mit, in seiner Heimatgemeinde, da treffe es auch Bekannte. Und er ist sich sicher, dass sich in manchen Bereichen ein zum Teil drastischer Strukturwandel ankündigt. Der Corona-Schock wird also noch lange zu spüren sein, auch wenn die Expertinnen und Experten längst wieder in ihre Büros zurückgekehrt sind.

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Roland Fischer ist freier Wissenschaftsjournalist in Bern