Carte Blanche Wolfgang Tschacher

Universität Bern in Zeiten Coronas

Corona und Embodiment

Von Wolfgang Tschacher

Ich erlebte die ersten Wochen in meinem Heimbüro teilweise wie die Endlosschleife im Film «Und täglich grüsst das Murmeltier»: Ich stehe auf, schaue aus dem Fenster: das Wetter immer gleich sonnig, der Himmel kondensstreifenlos blau. Und mir fällt ein, ach ja, es sind Coronazeiten ... Zuhause bleiben, Computer anschalten, kollegialer Austausch nur über Zoom, Skype und ähnliche Kanäle. Die Uni hält uns an, physischen Kontakt wo immer möglich zu meiden und für Kollegen und Studierende nicht länger physisch zugegen zu sein.

Mir persönlich als psychologischem Wissenschaftler fällt an der Corona-Situation als Ironie auf, dass die Restriktionen, die der Bundesrat und entsprechend alle Institutionen ab März verhängten, direkt mein Forschungsgebiet betreffen. Mich interessieren nämlich seit Langem die psychologische Untersuchung der Verkörperung des Geistes und die körperlichen Aspekte der sozialen Interaktion. Der Fachbegriff ist dafür «Embodiment». Ich will diese Thematik kurz definieren und dann den Zusammenhang mit der Corona-Krise herstellen.

Embodiment bezeichnet die Bidirektionalität zwischen Geist (Kognition, Erleben, Psyche) und Körper (nonverbales Verhalten, physiologische Prozesse, Motorik). Im Kern erkennt man darin die Leib-Seele-Dualität, deren Existenz und Ausgestaltung eine philosophische Grundfrage ist. Die Kognitionswissenschaft spricht auch von «4E cognition»: Kognition ist embodied (verkörpert), embedded (eingebettet in die Anforderungen und Möglichkeiten der jeweiligen Umweltgegebenheit), extended (Denken mit Werkzeugen, z.B. mit Formeln, Statistiken, Diagrammen), und enactive (Denken und Handeln basieren auf dem fortlaufenden Aufstellen und Überprüfen von Hypothesen). Die vier E's mögen etwas unscharf voneinander abgegrenzt sein, aber sie haben eine gemeinsame «kognitivistische Feindin»: die Computermetapher des Denkens, also die Theorie, Kognition sei reine Informationsverarbeitung. Dementsprechend hat die neuere Forschung inzwischen zahlreiche Belege dafür gefunden, dass Kommunikation mehr ist als nur der Austausch von abstrakter Information. In der empirischen Psychologie sind wir dabei häufig mit praktischen Implikationen der Zusammenhänge zwischen Körper und Geist befasst. Gelingende Kommunikation bedeutet, dass die Beteiligten sich körperlich synchronisieren: ohne dass sie sich dessen bewusst sind, gleichen sich bei Kommunikationspartnerinnen und -partnern Körperpositur und -haltung, Stimme, Gestik und Motorik, sympathische und parasympathische Aktivierung einander an. Die Idee einer solchen sozialen Resonanz und Synchronie ist zwar nicht neu, aber erst seit einigen Jahren gibt es dazu systematische empirische Forschung in der Psychologie, den Geisteswissenschaften (z.B. embodied aesthetics) und auch der Computerwissenschaft (z.B. Robotik). Unsere psychologischen Projekte in Bern haben dazu beigetragen, die Implikationen von Embodiment zu analysieren. Wir fanden etwa, dass Psychotherapieklienten und Therapeuten eine höhere wechselseitige Empathie und bessere Therapieergebnisse erzielten, wenn sie in Sitzungen motorisch synchron waren. In nichttherapeutischen Alltagsgesprächen zwischen Fremden führte nonverbale Synchronie zu einem höheren positiven Affekt. Die kognitiven Symptome psychiatrischer Patientinnen und Patienten liessen sich systematisch einer geringeren Synchronie, die sie mit anderen Personen realisierten, zuordnen. Psychotische Symptome waren auch mit Bewegungsmerkmalen im Alltag assoziiert: Mit Hilfe von Bewegungssensoren, wie sie in jedem Mobiltelefon eingebaut sind, fanden wir etwa, dass kognitive Desorganisation und Zerfahrenheit sich auch in der Desorganisation der Körperbewegung widerspiegeln.

Diese Befunde kann man auch umgekehrt formulieren: Wenn Interaktionen entkörperlicht («disembodied») sind, verarmt dadurch die Kommunikation zwischen den Interagierenden, weil sie schlechter miteinander in Resonanz kommen können. Das sollte besonders im psychotherapeutischen Kontext nachteilig sein, wo gegenseitiges Verstehen und Empathie (also die Güte der therapeutischen Allianz) wichtige Wirkfaktoren sind.

Nun sind also viele Menschen in der Universität, an Schulen, in Kommissionsarbeit und in therapeutischen Kontexten mit Anforderungen des Abstandhaltens konfrontiert, manifest geworden durch zwei Meter Distanz, das Tragen von Gesichtsmasken, durch obligatorische Videokonferenzen oder Vorlesungen per Podcast. Therapie- und Supervisionssitzungen werden am Telefon oder in Videoübertragung gehalten. Mehrere meiner Forschungsprojekte, die soziale Interaktion zum Gegenstand haben, sind sistiert oder verschoben: empirische Embodimentforschung findet im Moment nicht statt. Alle die Distanzmassnahmen haben eines gemeinsam: sie entfalten offensichtlich das Potenzial, körperliche Signale abzuschwächen und zu verzerren. Nonverbale Synchronie wird abgeschwächt durch kleine zeitliche Entkoppelungen zwischen Ton und Video sowie durch die Unmöglichkeit von Blickkontakt in der Videokonferenz. Details der Körpersprache und der Stimme werden nicht mitgesendet. Beim Tragen von Masken gar werden die emotional wichtigsten Elemente des Gesichtsausdrucks buchstäblich unsichtbar.

 

Natürlich stellt sich die Frage, wie ernsthaft die entstehenden Kommunikationsschwierigkeiten sind. Sicherlich kann man auch unter ungünstigen Bedingungen erfolgreich kommunizieren, Menschen sind ja virtuos in der Anpassung angesichts von Widrigkeiten. Solche Resilienz mag sogar positive Nebeneffekte haben. Insgesamt aber fürchte ich, dass wir im Moment wesentlich nur noch vom vorhandenen sozialen Kapital leben. Bestehende Beziehungen mit langjährigen Freunden oder Kollegen werden durch Videotelefonie zwar nicht schlechter, aber wie verhält sich das beim Knüpfen neuer Beziehungen, was auf den jetzt allesamt abgesagten Kongressen hätte stattfinden sollen? Kaum vorstellbar ist für mich, dass neue Kontakte auf virtuellen Kongressen entstehen. Fatal für gelingende Kommunikation fände ich auch den Wegfall von Präsenzveranstaltungen an Universitäten als Dauerzustand. Ohne die Möglichkeit zur Diskussion und Rückfrage wird eine Vorlesung zur Konserve. Was manche jetzt als Chance für eine weitere Digitalisierungswelle in allen Gesellschaftsbereichen ansehen, empfinde ich als Rückschritt. Lehr-Lernkontexte müssen mehrheitlich in Präsenz stattfinden, Beziehung entsteht von Angesicht zu Angesicht: das ist eine Folgerung aus der Embodiment-Forschung.