Carte Blanche Christiane Tretter

Carte Blanche

Was Sie schon immer über exponentielles Wachstum wissen wollten …

Von Christiane Tretter

Dass mathematische Kurven in der breiten Öffentlichkeit je eine so grosse Bedeutung erlangen würden wie zurzeit, hätte ich mir bis vor kurzem nie vorstellen können. Weniger überrascht bin ich über die grossen Schwierigkeiten mit deren Interpretation und das Unterschätzen der Gefahr, die sie eindeutig signalisieren. Auf meinem langen Weg vom allerersten Schultag in einer kleinen Stadt in Bayern bis zu einem Lehrstuhl für Mathematik an der Universität Bern bin ich begleitet worden von Vorurteilen gegen ein Fach, ohne das keine heutige Gesellschaft in Gesundheit, Sicherheit und Wohlstand leben könnte und dem gleichzeitig so viel Missachtung gilt. Wie die meisten Wissenschaftler bin ich auch begleitet worden von Vorurteilen gegen einen Beruf, der reinen Erkenntnisgewinn und Grundlagenforschung über ökonomisches Gewinnstreben und gesellschaftliches Ansehen setzt.

Als die meisten Berner noch sorglos ihrem Leben nachgingen, stand ich bereits am 3. März zum ersten Mal in meiner Hochschullaufbahn vor einem riesigen, gespenstisch leeren Hörsaal im Gebäude der Exakten Wissenschaften, wo ich sonst etwa 200 Studierende der Mathematik, Physik und Informatik in die abstrakte Welt der Analysis einführe. Die Umstellung der grossen Präsenz Vorlesungen auf Podcasts erfolgte innerhalb von weniger als drei Tagen übers Wochenende, von Freitag Abend bis Montag morgen, die Umstellung aller anderen Veranstaltungen der Universität erfolgte nach dem Beschluss des Bundesrats am 13. März zwei Wochen später in ebenso kurzer Zeit. Nie hätte irgendjemand ausserhalb der Universitäten geglaubt, dass jahrhundertealte grosse Institutionen wie diese so extrem schnell und effizient auf eine so enorme Krise reagieren können!

In den leeren Reihen des Hörsaals in der Analysis Vorlesung oder im Bildschirm meines Laptops in der Vorlesung «Mathematics for Data Science» sehe ich keine interessierten Gesichter oder zweifelnde Blicke, die mich ablesen lassen, ob eine zusätzliche Erklärung nötig ist. Andererseits war es nie leichter, Anschauungsbeispiele für den Stoff beider Vorlesungen zu finden. In der Analysis Vorlesung begann letzte Woche das Thema Differentialgleichungen - die nicht nur physikalische Prozesse, sondern auch die Ausbreitung von Epidemien beschreiben. Die Lösungen der einfachsten aller Differentialgleichungen y'=cy weisen exponentielles Wachstum auf, das auch am dramatischen Anfang von Epidemien dominiert. Deren gesamte Entwicklung kann mit Hilfe ausgefeilterer mathematischer Modelle vorhergesagt und simuliert werden, um z.B. die Wirksamkeit politischer Entscheidungen auf das Pandemiegeschehen vorab zu testen. Zur Untersuchung der Ausbreitung von Viren in unseren heutigen komplexen Netzwerken von Individuen braucht es aber noch viel mehr: Graphentheorie, Spektraltheorie, Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik. Ob es nach dieser Krise auch immer noch salonfähig sein wird, damit zu kokettieren, dass man schon immer schlecht war in Mathematik, oder zu fragen, was man mit einem Mathematikstudium eigentlich beruflich machen kann? Oder ob man stattdessen einmal wagt, das scheinbar Unverständliche verstehen zu wollen? Probieren Sie es mit dem exponentiellen Wachstum, z.B. auf 3blue1brown, einem youtube channel für «Animated Math» - nicht nur für Erwachsene ....

In der Forschung hat die COVID19 Krise unterschiedliche Auswirkungen: gravierendere für Fächer, in denen Experimente und Exkursionen zentral sind, und geringere, wenn man Glück hat und wie ich als Mathematikerin nur einen guten Rechner, schnellen Internetanschluss und Zugang zu internationalen elektronischen Zeitschriftenressourcen braucht. Meine Arbeitstage beginnen früh und enden meist sehr spät, unter der Woche kann ich sie als Institutsdirektor im leeren ExWi Gebäude verbringen, wo es in «normalen» Zeiten schwierig ist, die Konzentration zu finden, um Drittmittelanträge für Forschungsprojekte vorzubereiten und gemeinsame wissenschaftliche Arbeiten voranzutreiben. Die heute schier unbegrenzten Möglichkeiten der Kommunikation haben in der Mathematik schon vor Jahrzehnten eine regelrechte Revolution ausgelöst. Kaum mehr jemand arbeitet alleine, weil es gemeinsam einfach mehr Spass macht! In der jetzigen Krise hat sich der ohnehin schon rege digitale Austausch mit Koautoren und Kollegen in der ganzen Welt noch weiter intensiviert. Und doch fehlt etwas Entscheidendes – die persönlichen Begegnungen: das Treffen mit der Forschungsgruppe bei einem Kaffee in meinem Büro, die gemeinsamen Diskussionen und Erlebnisse am Rande von Workshops und internationalen Tagungen. Dass wir dennoch länger darauf werden verzichten müssen, spüre ich auch als Herausgeberin einer internationalen wissenschaftlichen Zeitschrift. Zwischen den Zeilen der emails von Gutachtern und Autoren, zum Beispiel aus Spanien oder China, wird das Ausmass der Pandemie überdeutlich. Trotz alldem – und mit den gleichen Sorgen um unsere Lieben daheim wie alle anderen – arbeiten wir gemeinsam geräuschlos und von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt weiter.

Lange auf Ergebnisse und Erfolge warten können, einen eingeschlagenen richtigen Weg konsequent bis zu Ende gehen, für ein noch fernes Ziel auf vieles verzichten, Wissen zweckfrei und gern mit anderen teilen: vielleicht sind es diese durch keine Evaluation mess- und erfassbaren Eigenschaften der Forscher und Hochschullehrer, die die Universitäten so gut durch die Krise tragen?

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