Carte Blanche Christian von Zimmermann

Carte Blanche

 

Teil 1: Krisenzeit - Novellenzeit (1 – 3. April 2020)

Teil 2: Blaue Tomaten. Oder: Agamben, Trump und Griechenland (11. April 2020)

Teil 3: Ferien im und vom Ausnahmezustand (23. April 2020)

Teil 4: Lockerungsübung (27. April 2020)

Teil 5: Spatzenlärm (4. Mai 2020)

Teil 6: Irgendwie schon wieder normal (19. Mai 2020)

Teil 7: Ein stilles Buch (25. Mai 2020)

Teil 8: Schon ist die Tür geschlossen (4. Juni 2020)

 

Krisenzeit – Novellenzeit (Teil 1)

Gedanken eines Literaturwissenschaftlers in der Selbstisolation

Von Christian von Zimmermann

Womit beginnt ein Literaturwissenschaftler einen Text in Zeiten der Covid 19-Pandemie? Am besten so, wie jeder dieser Texte beginnen sollte: mit dem Bekenntnis, tief von der solidarischen Vernunft der Mehrheit berührt zu sein, und nicht zuletzt mit der Feststellung, dass alle Mitarbeitenden im eigenen Verantwortungsbereich – der Forschungsstelle Jeremias Gotthelf – und, soviel ich sehe, auch überall sonst an der Universität mit unglaublicher Gelassenheit, Kreativität und Einsatzbereitschaft die neuen Arbeitsformen angenommen haben. Alle tragen in ihrem Bereich dazu bei, dass es trotz der besonderen Situation in der bestmöglichen Weise gelingen möge, Forschungsarbeiten voranzutreiben, die Lehre mit den Studierenden gemeinsam umzusetzen und akademische Nachwuchsperspektiven zu fördern.

Selbstverständlich läge es für den Literaturhistoriker auch nahe, anders zu beginnen: etwa mit den Sitzungen einer Vorlesung über die Novellenmode im 19. Jahrhundert. Wie anders als mit einer Vorstellung des "Decamerone" des italienischen Dichters Boccaccio steigt man in eine solche Vorlesung ein. Und selbstverständlich ist die besondere Situation der Pest in Florenz aus der Sicht von Boccaccios Vorrede ein Thema. Boccaccio beschreibt, wie die Pest auf eine ohnehin schon brüchige Weltordnung trifft und diese endgültig in Frage stellt: Was der Mensch ist und was er soll, lässt sich nicht mehr allein nach vorgegebenen moralischen Mustern erklären. Die Pest rafft alle hin, Fromme und Sünder, ohne Unterschied. In dieser Sondersituation kann sich die Moral von der Norm emanzipieren. Sie wird in der Erzählgemeinschaft einer kaum als Bild der Selbstisolation tauglichen Gruppe junger Menschen zum Spiel der freizügigen Fiktionen, die alle möglichen Varianten erotischer Beziehungen zulassen. Sie wird freigesetzt und soll sich aus der Erfahrung der menschlichen Natur speisen, um eine Ethik des Zusammenlebens zu entwickeln, die auf den Menschen auch passt.

Heinrich von Kleists Novelle über den sich wiederum in Pestzeiten als Waisenknaben ausgebenden, ‘bigotten’ «Findling», der – unter dem irritierenden Beifall von mindestens zwei Generationen literaturwissenschaftlicher Forschung – seine Stiefmutter vergewaltigt und seinen naiven Stiefvater übertölpelt, schloss sich in der Vorlesung an. Der Pestknabe bricht in die bürgerlich-vernünftige Welt des Kaufmanns unter dem Schutz einer korrupten Kirche ein. Auslieferung der Welt an das absolut Böse. Ich las die ersten Sätze der Novelle aus aktuellem Anlass zu Beginn der Sitzung vor. Die Nähe zwischen den literarischen Schilderungen und dem zügigen Näherrücken der Pandemie, die damals noch nicht so genannt wurde, war nicht mehr zu leugnen. Es war die vorletzte Präsenzvorlesung in diesem Semester.

Die Pest und die Novelle haben eine innige Verbindung, und immer ist die Pest das Signal für die Auflösung der Ordnung. Die Angst zerstört die Bande zwischen Eltern und Kindern und allen Menschen; so wird die Pestkatastrophe in Adalbert Stifters wunderbarer Novelle «Granit» beschrieben.

Die Wirklichkeit verhält sich anders. Die öffentliche Ordnung ist nicht bedroht, nicht in der Schweiz, nicht in Italien, Frankreich oder Deutschland und kaum ernsthaft in China. Gewiss, vor meiner Haustür haben auch vier Teenager ohne jeden Abstand zu Unterrichtszeiten ein frisiertes Töffli gequält. Die leeren Regale ohne Toilettenpapier habe ich auch gesehen und auch den Mann, der an der Kasse trotzig keinen Abstand hielt und nicht ohne expliziten Hinweis auf die allgemeine Hysterie und ohne jede Empathie für die mit ihren eigenen Ängsten an der Kasse sitzende Verkäuferin mit Bargeld zahlte. Über allem aber lag von Beginn an die ruhige Vernunft einer reifen und aufgeklärten Gesellschaft, über Bürgerinnen und Bürgern, die in einmütiger Freiwilligkeit dem gemeinen Wohl vorübergehend eigene Freiheitsrechte opfern und einer leidenden Wirtschaft widerspruchslos umfassende finanzielle Unterstützungen gewähren. Wie viele Gesellschaften in Geschichte und Gegenwart konnten und können mit einem solchen Vertrauen das Vernünftige tun?

Das ist, ich gestehe, hart an der Grenze zu einem patriotischen Pathos des Augenblicks gesprochen. Der Philosoph Ludwig Feuerbach, Gegner jeder bodenlosen Geistigkeit, könnte dem wohl entgegenhalten, dass Vernunft und Aufklärung nie im Abstrakten, sondern nur in der nahen Lebenswelt konkret zu erkennen seien. Es zählen nur die konkreten Bemühungen der Einzelnen. Die Gelegenheit nutzend, danke ich exemplarisch den Mitarbeitenden der Forschungsstelle Jeremias Gotthelf, die – jede und jeder für sich in ganz speziellen Situationen – ihre Arbeitsplätze zuhause eingerichtet haben, der Krise zum Trotz Gotthelf-Handschriften transkribieren, Editionsbände druckfertig machen und in produktiven digitalen Gesprächen die digitale Edition vorantreiben. Dabei stehen auch wir vor denselben Herausforderungen wie alle anderen, müssen Betreuungsfragen klären, Home Schooling organisieren oder auf den leichten Zugang zu Bibliotheksbeständen verzichten. Aber wir arbeiten – wie die meisten anderen – so gut es eben geht in Forschung und Lehre weiter. Eine vielfach missbrauchte Sentenz aus den Werken von Jeremias Gotthelf hat sich für uns mit ganz neuer Bedeutung gefüllt: «Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterlande.»

Tief berührt mich – wie ebenso meine beiden theologischen Kollegen David Plüss und Martin Sallmann – das Engagement der Studierenden, die der Krise zum Trotz sich intensiv mit den religionsphilosophischen Werken von Schleiermacher und Feuerbach in rein schriftlich geführten Seminarsitzungen in kollaborativen digitalen Dokumenten auseinandersetzen. Immer fühlt man sich in guter Gesellschaft derer, die auch neue digitale Lehrformen ausprobieren, dieselben Vorbehalte und Ängste gegenüber Videoaufzeichnungen eigener Lehre teilen und dennoch viel daran setzen, dass Studierende dieses Semester nicht verlieren.

Perfektion sieht freilich anders aus. Selten war ich für eine Studierendenrückmeldung so dankbar wie für das halbe Lob nach der ersten im Heimstudio aufgenommenen Vorlesungssequenz, man merke, dass ich mir Mühe gäbe. Viele Studierende sind ohne Weiteres bereit, die Lehrenden in der Umstellung auf ganz andere Lehrformen durch kreative Ideen und Engagement für die Sache zu unterstützen.

Keine fundamentale Erschütterung also und dennoch passiert auch jetzt, wofür die Novellendichter die alle Ordnung zerstörende Pest bemühen mussten: Es stellen sich neue Fragen für das menschliche Zusammenleben, die Organisation von Arbeit und Familie. Auch hier sind die unzähligen selbst berufenen Zeitdeutenden zwischen Popularphilosophie und Esoterik mit den abstrakten Fragen und Krisendeutungen längst beschäftigt. Im Home Schooling – ein Ausdruck, den ich zuvor eher nicht benutzt hätte – überraschte mich mein Sohn dieser Tage damit, dass er sehr rasch seine Schulpflichten erledigt hatte. Auf die Frage, wieso er so schnell fertig sei, antwortete er: «Es geht halt schneller, wenn die Lehrerin nicht dazwischen quatscht.» So souverän klingen Schüler und Schülerinnen, die in der Krise Selbstlernfähigkeiten und Selbstverantwortung erlernen. Und hier liegt ein grosses Potenzial der Krise: in der Emanzipation selbstverantwortlichen Lernens, Lehrens und Forschens.

Die Frage, was der Mensch ist und soll, stellt sich in der Krise immer neu – auch für akademische Lebensbereiche. Eigentlich eine Zeit für die Novelle. Schrieb ich schon, dass die Novelle die Textgattung der Verunsicherung und Erprobung von Menschenbildern in ganz konkret ausformulierten fiktionalen Lebenswelten ist?

(Diese Betrachtungen wurde aufgrund eines nahen ungeprüften Verdachtsfalls in der Selbstisolation geschrieben.)

Blaue Tomaten. Oder: Agamben, Trump und Griechenland (Teil 2)

Gedanken eines Literaturwissenschaftlers in der Selbstisolation

Wenn ich meine Eltern anrufe, die man aufgrund der Geburtsjahrgänge, die in ihren Ausweisen stehen, jedenfalls dann, wenn man sie nicht vor Augen hat und nicht hört, die man dann also irgendwie alt nennen könnte, antwortet meine Mutter mit dieser provozierenden Stimme: «jaha, wir leben noch!» Nun sind diese Eltern eines inzwischen auch in etwa der Altersklasse ‘alter weisser Mann’ angehörenden Sohnes aber nicht eigentlich betagt, sondern eher ständig unterwegs, haben einen rege aktiven Freundeskreis und zudem Kinder und Enkelkinder am Ort. Diese meine bewegten Eltern sind nun, weil sie selbst und die ihnen nahen Menschen dies übereinstimmend für vernünftig halten, weitgehend isoliert, machen aber durchaus einsame Spaziergänge in naher Natur.

Ob Giorgio Agamben Eltern hat, um die er sich Sorgen macht, und von diesen auch mit einem deutungsoffenen «jaha, wir leben noch» begrüsst wird, weiss ich nicht. Während ich zwischen ZOOM-Konferenzen, digitalen Seminarvorbereitungen, literweise Earl Grey-Tee (mit Hafermilch) und natürlich auch Home Schooling und Sonnenbalkon mein Leben im Home Office führe, macht sich Agamben Gedanken. Er fragt sich zum Beispiel: «Wie konnte es so weit kommen, dass angesichts einer Krankheit, deren Schwere ich nicht beurteilen kann, die aber bestimmt keine Pest ist, eine ganze Gesellschaft das Bedürfnis verspürte, sich verpestet oder verseucht zu fühlen, sich in den Häusern zu isolieren und die normalen Lebensbedingungen zu suspendieren, also ihre Arbeitsverhältnisse, ihre Freundschafts- und Liebesbeziehungen und sogar ihre religiösen und politischen Überzeugungen?» Seine Antwort auf die syntaktisch ganz und gar beeindruckend lange und daher differenziert wirkende Frage beginnt in der deutschen Fassung mit meinem Lieblingswort: "Offensichtlich ist es so, dass es die Seuche irgendwie, wenn auch nur unbewusst, bereits gab."

Meine Eltern habe ich nie täglich angerufen. Manchmal habe ich den Eindruck, meine Mutter reagiere schon eher genervt auf die plötzlich so regelmässigen Telefonate, deren Privatthema sich rasch erschöpft, da sich in der ihrerseits altersbedingt, meinerseits aufgrund eines nahen ungetesteten Krankheitsfalls eher übervorsichtig eingehaltenen Selbstisolation nicht allzu viel ereignet: «Jaha, wir leben noch». Wir reden also nur kurz über Covid-19. Dann lenkt meine Mutter das Gespräch auf Griechenland, das Drama der Flüchtlinge, der Kinder, denen niemand hilft. Wir glauben beide, dass die deutsche Bundeskanzlerin damals richtig gehandelt hat und dass sie wieder bedingungslos humanitär handeln würde, wenn der Rechtspopulismus nicht jede Mitmenschlichkeit unter das Damoklesschwert seiner Wiederauferstehung gestellt hätte. Das glauben wir, und wir sind dem Virus auch dankbar, dass es ebendiesen Rechtspopulismus zur Zeit aus den Medien gedrängt hat. Niemand von uns beiden hat je am Stammtisch politisiert; vielleicht würden wir dort dann verkünden, es sei offensichtlich diesem Rechtspopulismus, der die verbliebenen liberal denkenden Regierungen Europas in Angst und Schrecken versetze, geschuldet, dass mitmenschliches Handeln unterbleibe. Vielleicht hätten wir sogar recht.

In der Selbstisolation ist die Freundin der Mutter meiner drei grossen Kindern für mich einkaufen gegangen. Meine Eltern lassen sich von meiner Schwester die Einkäufe vor die Tür stellen. Wenn es das heimliche Unbehagen an den durchseuchten Anderen zuvor gegeben hat, dann, lieber Giorgio Agamben, haben wir diese mentale Seuche offensichtlich überstanden; jedenfalls hat sie diese beiden Frauen nicht erreicht, die ihre Freundschafts- und Familienbeziehungen intensivieren und einfach helfen. Für dieses zuvor nur erahnte Potenzial an Mitmenschlichkeit bin ich dankbar.

Manchmal, wenn ich in meiner Selbstisolation sitze, könnte ich auch auf Gedanken kommen. Ich könnte mir etwa denken: «Wie konnte es so weit kommen, dass es in Italien nur noch blaue Tomaten gibt?» Und ich würde antworten: «Offensichtlich ist es so, weil es die Bläue irgendwie, wenn auch nur unbewusst bereits gab.» Natürlich – auch so ein Lieblingswort – könnte man, wenn man nicht gerade in Selbstisolation lebte – hinausgehen und in den trotz allem mit italienischen Tomaten gesegneten Supermärkten die These einer ausnahmslosen Tomatenbläue widerlegen, wie man auch jede andere Gedankenkonstruktion prüfen könnte. Man, also jede einzelne Person, könnte sich zum Beispiel fragen, ob sie sich durchseucht und verpestet fühlt. Allerdings ist der Gedanke an eine stets übersehene, aber immerschon vorhandene Tomatenbläue so reizend, dass er jede Selbstisolation lohnenswert erscheinen lässt. In meinem intellektuellen Merzbau jedenfalls gäbe es einen Schrein für blaue Tomaten.

Es ist erstaunlich wie viel Selbstdisziplin und Selbstverantwortung Kinder in kürzester Zeit im Lockdown lernen. Sie sitzen zu Schulzeiten am Esstisch und bearbeiten die Wochenpläne einsatzfreudiger Lehrpersonen oder warten auf digitale Schullektionen im Chatroom. Es ist überaus überraschend, wie diese Kinder ihre von der Gesellschaft als normal oktroyierten Lebensbedingungen ohne Weiteres suspendieren – und gar noch einen Vorteil daraus ziehen.

Meistens übrigens habe ich in der Selbstisolation keine besonderen Gedanken. Ich habe genug damit zu tun, meine neue Spiessigkeit zu leben, denn ich stelle fest, dass es mir wichtig ist, morgens zur normalen Zeit aufzustehen, im Home Office beruflich angemessen gekleidet zu sein und ähnliche Dinge mehr. Ausserdem ist es warm und frühlingshaft und der Genuss wärmender Sonnenstrahlen auf meiner Winterhaut ermöglicht eine durchaus angenehme Anwesenheit im eigenen Körper.

Leider geht es auch mir so, dass ich diese Momente nicht einfach festhalten kann, sondern zum Smartphone greife, um Pandemie-Deutungen zu lesen. Zu meinen Lieblingsseiten gehören digitale Feuilletons und Weltanschaulichkeiten. Dem anthroposophischen Arzt Georg Soldner, der im Goetheanum über das Virus berichtet, muss man immerhin zu Gute halten, dass er weitgehend richtig die bisherigen medizinischen Erkenntnisse wiedergibt und immerhin nur mit ein bisschen Weltanschauungsfarbe nachhilft. Das Virus befalle jedenfalls nur Menschen, die aufgrund ihres Alters oder anderer Lebensuntüchtigkeit zu sehr im Geist und zu wenig im Leib beheimatet seien. Ausserdem helfe vorbeugend, die Lunge mit Sonne und Erde in Verbindung zu setzen und soziale Spannungen abzubauen. Dies ist an der Oberfläche ganz harmlos und wahrscheinlich unschädlich, aber es ist jedenfalls ein reines Geistesprodukt (das freilich die Rudimente einer brachialen Moralkeule in sich trägt). Ob es das Virus nun eher auf Geistmenschen als auf Leibmenschen abgesehen hat, mag einmal das statistische Material erweisen, wenn es einmal hinreichende Kriterien geben sollte, nach denen man diese Menschentypen unterscheiden kann. Hinreichend belegt ist freilich, dass das Virus den Gedankenstrom vieler vermutlicher ‘Geistmenschen’ beflügelt. Dies zeigen die zahllosen Virustheorien, in denen das Virus für jedwede soziale ‘Krankheit’ der Gegenwart und jedwede Dystopie oder Utopie herhalten muss.

Von sich selbst zu reden, ginge ja immer. Am zweiten Tag im Home Office stand mir das Bild einer nicht wieder umkehrbaren Schwellensituation vor Augen: Nie wieder werde die Welt danach so sein, wie die Welt davor. Am vierten Tag hatte ich mich einigermassen davon erholt, befürchtete aber nun, dass menschliche Trägheit dafür sorgen werde, dass in kürzester Zeit alles wieder beim Alten wäre. Während ich dies alles erwog, duftete die Sternmagnolie im Garten tief süsslich, und ich verzichtete im Home Office immer häufiger darauf, Schuhe, Hausschuhe oder Strümpfe zu tragen. Und irgendwie schämte ich mich dann, dass ich mich in Gedanken darüber verloren hatte, wie die Welt womöglich – verändert oder träge und unverändert – einmal aussehen würde, während der Frühling Grashalme durch meine Zehen schob und in Griechenland Flüchtlinge nach wie vor ganz reales Leid erfahren.

Lieber Giorgio Agamben, ich weiss, dass Sie nicht bei Ihrer Ausgangsfrage stehen geblieben sind. Sie philosophieren auch über die Wissenschaft als neue, nackte Religion, und sie haben das Gefühl, dass wir zu einer Anticanettimasse werden, einer Masse, die nicht durch Überwindung von Berührungsängsten, sondern durch gleichförmige Distanziertheit im Social Distancing entsteht. Das liest sich ganz flüssig, wenn man einmal die erste rhetorische Frage und den offensichtlichen Schluss akzeptiert hat; auch die Handlungsanweisungen von Georg Soldner sind konsequent, wenn man die anthroposophische Vorannahme für einmal als gegeben voraussetzt. Mich erinnert das in diesem Moment an Donald Trump, der gerade lieber Arzt geworden wäre, offenbar weil er dann mit einem Antimalariamittel das Wunder der Massenheilung erbringen könnte. Gut, der Bezug ist weder natürlich noch offensichtlich, aber irgendwie kann ich gerade den Ludwig Feuerbach gut leiden, der das Bedürfnis des Menschen, über das konkret Erfahrbare hinauszugehen, beargwöhnt hat, und als Religion das Bedürfnis beschrieb, den Dingen einen Ursprung, eine verantwortliche Instanz dahinter, zuzuschreiben; und der in seiner Welt befangene Mensch schreibe nun der Welt also eine verantwortliche Instanz zu, die der Vernunft dieses Menschen sehr ähnlich sei. Wir sehen ja trotz allem nicht viel von der Welt und können, um alles zu begreifen, ja nur unseren begrenzten Verstand hochrechnen. Wir machen uns dann zu unserer eigenen Religion, also zu einer Form der Selbstgerechtigkeit. Die Sehnsucht nach Religion in diesem Sinn ist gross. Sie zeigt sich als Feuilletonreligion oder als Weltanschauungsreligion oder als Allmachtsphantasie. Und auch darin haben Sie recht: Das Virus bringt etwas zum Vorschein, dass längst schon angelegt war. Persönlich würde ich es niemandem verübeln, der angesichts der Behauptung, es gebe nur noch blaue Tomaten mit kruder Empirie und nackter Wissenschaft antworten würde, es gebe zwar einzelne Sorten, die man freilich blau nenne, aber erstens seien die meisten Tomaten nach wie vor rot, zweitens seien blaue Tomaten nicht blau.

Ich sehe noch nicht klar. Ich schlage darum vor, eine Weile durch das Frühlingsgras zu gehen und wach zu sein für alle Dinge, die gerade passieren, ohne sie gedanklich zu vereinnahmen. In dem Land, in dem ich lebe, vertraue ich darauf, dass in dieser Situation nicht weltanschaulich, sondern nüchtern und wissenschaftsnah gehandelt wird. Ich habe keine besondere Angst vor dem Virus und nicht davor, meine Freiheitsrechte vorübergehend an Strukturen abzutreten, die diese Gesellschaft in freier Entscheidung gerade für solche Belastungssituationen geschaffen hat. (Gewiss, wir werden reden müssen: über Datenschutz etwa oder über die Systemrelevanz von Kultur.) Ich bin aber auch überzeugt, dass viele bereit wären, diese Strukturen und diese Freiheit mit aller Kraft zu schützen, so wie viele jetzt bereit sind, sich selbst einzuschränken, um Anderen nicht zu schaden.

Einstweilen geniesse ich die besondere Nähe zu meinen Kindern, zu ausgewählten Menschen, und ich hoffe, dass unsere neu gewonnene Mitmenschlichkeit solche Wellen schlägt, dass wir endlich auch die Flüchtlingsfrage humanitär lösen können.(Diese Betrachtungen wurden aufgrund eines nahen ungeprüften Verdachtsfalls in der Selbstisolation geschrieben.

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Ferien im und vom Ausnahmezustand (Teil 3)

Gedanken eines Literaturwissenschaftlers nach der Selbstisolation

Der weisse Esstisch, der aufgrund eines veränderten Beziehungsstatus den Weg aus dem Esszimmer in den Entsorgungshof finden sollte, dann aber auf dem Kiesplatz vor der Waschküche eine geduldete Existenz fristete, steht nun im rechten Winkel zur Hauswand und ermöglicht so dem dort Schreibenden den freien Blick in die Landschaft. Jedenfalls seit die Blautanne gefällt ist. Jetzt sitze ich hier mit einem Kaffeekrug, einem Schälchen Mocca-Glace und dem Computer. Hebe ich den Blick und denke mir den Wäscheständer fort, so beginnt hinter dem Gartenzaun Wiesengrün. Dann folgt ein frisches grünes Weizenfeld, welches durch eine von rechts nach links langsam ansteigende Linie begrenzt wird, auf der sich zwei SpaziergängerInnen im gebotenen Abstand bewegen. Eben sind sie durch den Schatten des grossen blühenden Birnbaumes hindurchgegangen, der freilich allmählich seine Blütenpracht durch grünes Laub vertauscht und also grün-weiss gesprenkelt ist. Gerne würde ich die Grüntöne präziser beschreiben, aber es fehlt mir die Übung zur Schilderung feiner Abstufungen und Schattierungen. Dahinter hebt sich sacht die Pferdekoppel mit einem Meer von Säublumen, Löwenzahn oder wie auch immer Sie zu diesen sonnengelben Wiesenpflanzen sagen mögen, die sich so malerisch in der Kulturlandschaft ausmachen und die doch niemand in seinem Garten dulden mag. Eine Erhebung weiter nach hinten zeichnet sich deutlich die Silouette des Kastanienbaumes ab, die sich in einem fast runden Schatten wiederholt, der sich über einen kleinen Hang unterhalb des Baumes in meine Richtung, also gegen Nordwesten, erstreckt. Noch weiter dahinter werden die Farben blasser, grünlich, bräunlich und schliesslich wird die Sicht durch einen Wald begrenzt. Selten durchschneidet ein glitzernder PKW hinter der Kastanie die Ansicht in einer fast waagerechten Linie.

Nach dem Anschlag auf ein französisches Satiremagazin in Paris vor fünf Jahren schrieb der Grand Old Man der berndeutschen Literaturszene, Beat Sterchi, in einem Essay «Auftakt mit Voltaire», er habe «gerade eine derart grosse Überdosis an Meinungsbeiträgen konsumiert», dass er sich auf das besinne, was nahe liege: «Wirklich hieb- und stichfest kann ich nur davon berichten, dass ich heute auf die Münsterplattform gegangen bin». Wenn ich die Feuilletonbeiträge der letzten Wochen lese, kommt mir Sterchis Satz in den Sinn: «Jeder und jede erklärt und rät und warnt und weissagt und droht!» Ich schweige von den Kommentarspalten unter den Meinungsbeiträgen. Jedenfalls möchte ich mit Alfred Andersch leise dazwischenflüstern: «Ich kehre zu meinen Himbeer-Beeten zurück. Ich entschließe mich, sie weiter zu pflegen.»

Eigentlich sässe ich derzeit am Lenkrad eines geliehenen Wagens, um mit meinen vier Kindern die Rückreise vom Urlaub aus Omegna am Ortasee anzutreten. Nach einem kurzen Vaterkinderurlaub, Vierkindervaterurlaub. «L’evoluzione dell’epidemia in atto nella nostra Regione non consente ancora allentamenti. Per Omegna, come per altre Regioni, restano vigenti le disposizioni previste a scopo precauzionale

Nun wäre es ja möglich gewesen, den Urlaub mit den Kindern im Vaterhaus zu verbringen, zumal die Tage der von mir vorsichtig eingehaltenen Selbstisolation ereignislos verstrichen sind. Bei ohnehin komplexen Familienverhältnissen und teils noch einzuhaltender Selbstisolation fanden sich dann im Vaterhaus aber nur meine Hündin, mein Nesthäkchen und mein Urlaubsich ein, das allerdings erst noch aus dem Home Office-Alltag herausgeschält werden musste. Dies freilich fiel der Jüngsten nicht schwer, die in den abgezählten Vaterstunden auch deswegen ein überzeugtes Papakind ist, weil sie mich fast jederzeit um ihren kleinsten Finger wickeln kann. 

Das Überraschende an dieser Krise ist ja ohnehin, dass sie neben einem grösseren Workload und insbesondere bei Einkäufen spürbaren Reglementierungen gleichwohl Momente einer Idylle bergen kann. Wie in frühen Kindertagen fange ich an, auf Kondenswasserstreifen am Himmel zu zeigen. Meine Hündin hat begonnen, die seltenen Spaziergänger*innen auf Sicht-, Hör- oder Geruchsdistanz zu verbellen, während sie sonst kaum den Kopf für die dicht am Gartenzaun vorbeiziehenden Hundebesitzer*innen, Schulkinder und Jogger*innen hob. Gut, das Bellen mag man in der Idylle als störend empfinden. –

Die Pseudoapokalypse, wie wir sie derzeit erleben, trägt eher das Gesicht von Marleen Haushofers Die Wand als von Sibylle Bergs GRM. Manchmal erinnert sie mich sogar eher an Ludwig Tiecks in freiwilliger Selbstisolation, Liebe und philosophischen Gesprächen lebendes Paar in der Novelle Des Lebens Überfluss. Allerdings zöge ich den Garten einer Dachwohnung vor. Ist es bereits Eskapismus, wenn man die sonnig-blauen Apriltage mit einem leichten Wind auf der Haut spürt und in seinen Ferien die unvermeidlichen Arbeiten mit Blick ins Grüne erledigt? Nichts jedenfalls sieht angesichts der Pandemie so gestrig aus wie ein vorjähriger dystopischer Roman. Fast nichts: Die gestrige Verschwörungs- oder ‘was-das-Virus-uns-sagen-will’-Theorie können hier gut mithalten. 

Schon richtig, wir befinden uns in der Peripherie der Ereignisse, leben nicht in Bergamo, nicht in New York und nicht in Wuhan. Auch nicht im Tessin. Wir – also ein nicht unerheblicher Teil der Schweizer Bevölkerung, der allenfalls indirekt oder jedenfalls zur Zeit nicht ernsthaft betroffen ist – leben im Schutz umsichtig ergriffener Massnahmen in einer Grenzzone, in welcher die in freiwilliger Selbstbeschränkung vorübergehend aufgeopferten Gewohnheiten und das Funktionieren eines komplexen Sozial- und Wirtschaftsgefüges austariert werden müssen. Niemand kann noch guten Gewissens behaupten, Ausmass, Dauer und Bedeutung dieses Lebens in der Krise zu kennen.

Auch an der Universität sind Einschränkungen besonders im Forschungsbetrieb spürbar. Beeindruckend ist , wieviele Leistungen der Bildungsinstitutionen aufrecht erhalten werden können, wieviel Kreativität sich im Umgang mit der neuen Situation zeigt. In digitalen Gesprächen bekannten schon manche Kolleg*innen, sie seien auf Unterrichtsformen gestossen, die man mit Gewinn nutzen könne – und niemals im normalen Betrieb kennengelernt hätte. Die verbreitete Sorge, die Digitalisierung werde die persönliche Lehre verdrängen, erscheint derzeit unbegründet: Für die Studierenden stehen Lehrinhalte, persönlicher Austausch und Persönlichkeit der Lehrenden nach den nun gesammelten Erfahrungen in einem engeren Verhältnis, als dies manche befürchtet haben mögen. Anonyme Arbeitsaufträge, verzögerte Rückmeldungen oder blosse Leseaufträge werden dagegen kritisch kommentiert. Persönlicher Austausch und unmittelbare Reaktion können aber nicht nur im Seminarraum, sondern etwa auch in einem gemeinsamen digitalen Arbeitsdokument erfolgen. Die damit verbundene Schriftlichkeit ist eine spannende Erfahrung, und sie ändert auch die Seminarvorbereitung der Studierenden und der Dozierenden.

Kreativität gibt es in jedem Bereich. Wie viele andere kleine Geschäfte, liefert auch meine örtliche Buchhandlung, Nachfolgerin eines Burgdorfer Traditionshauses, in welchem damals Jeremias Gotthelf publizierte, derzeit ins Haus. Den Lesestoff für meine lesehungrige Jüngste und das neueste Buch meines liebenswerten Kollegen Roland Reichen liefert die ehemalige Burgdorfer Stadtpräsidentin persönlich in den Briefkasten – schneller als die grossen Versandriesen. Eine Kollegin berichtete am Telefon, sie habe gar nicht gewusst, dass es in ihrer Gegend so viele kleine Restaurants gebe, von denen sie nun abwechselnd das Mittagessen für sich und ihren Sohn hole. Wenn mein Blick kritisch durch den Garten geht, wünsche ich mir bald öffnende Gärtnereien. Es gibt Bereiche, in denen ich mir eine Rückkehr in die Normalität nicht vorstellen kann: Kreuzfahrten, Ressorthotels, Busreisen. Nicht dass ich persönlich den Verlust dieser Fehlentwicklungen des Massentourismus als ökonomische Erscheinung unserer Zeit mit allen negativen sozialen und ökologischen Folgen bedauern würde, aber all die Arbeitsplätze, die Einzel- und Familienschicksale, Lebenshoffnungen ... 

In meinem Garten, an meinem Haus nisten jedes Jahr fast ein Dutzend Spatzenpaare. Das Schreien der Spatzen ist jetzt nahezu der einzige Lärm hier. Ab und an fährt einer jener Geisterzüge vorbei, die das prinzipielle Funktionieren des Nahverkehrs demonstrieren. Irgendwo sitzt immer eine verlorene Gestalt im Zug. Wie das wohl ist, wenn man zur Stunde der Wochenendheimkehrenden allein im Zug sitzt? Das Frühjahr ist ungewöhnlich trocken. Den Spatzen stelle ich Wasserschalen in den Garten. 

Roland Reichen nun freilich, den ich hier namentlich nenne, weil er mein Arbeitskollege an der Gotthelf-Edition ist und zudem ein hinreissend gut erzähltes Buch Auf der Strecki im Luzerner Verlag Der gesunde Menschenversand publiziert hat, der aber gleichwohl hier nur exemplarisch genannt wird… Roland Reichen also hat seinen Roman in den ersten Tagen des Lockdown publiziert. Schlechtes Timing, wenn es so etwas wie ein Timing geben könnte, wenn jemand doch über Monate, vielleicht Jahre an einem literarischen Werk gearbeitet und es dann zur Publikation gebracht hat. In unserem kleinen Land sind irgendwie angemessene Honorare für Autor*innen selten. Das ist nicht gerade eine Neuigkeit. Daher haben Leseauftritte mit neu erschienenen Büchern eine besondere Bedeutung für alle Schreibenden. Auch dies ist keine Neuigkeit, aber bei der Absage eigentlich sämtlicher Kulturveranstaltungen, darunter der wichtigen Berner Literaturfestivals – wie dem Thuner Literaare oder dem Festival Aprillen im Schlachthaustheater – und gar der Solothurner Literaturtage trifft einzelne Autorinnen und Autoren, die auf den Publikationstermin in diesem Frühjahr hingearbeitet haben, ein ganz und gar unverdientes Pech. (Die entsprechenden Verlage ebenso.) Facebook-Sofalesungen und Leseteaser vermögen dies nicht zu ersetzen. Bis in den Herbst wird sich der Literaturbetrieb gewiss nicht erholen – und wer weiss, was danach kommt.

Im Gegensatz zu Roland Reichens prägnanten Szenen aus dem Leben einer Familie am Rande zeigt sich in Sibylle Bergs ausufernder Dystopie GRM der Hang zum grossen interpretatorischen Wurf. Jede Figur der Erzählung ist durch wenige Eckdaten unzweideutig charakterisiert, wobei Männlichkeit zu den denkbar grössten – im Roman allenfalls mit einem massenweise verbreiteten Virus zu bekämpfenden – menschlichen Problemen gehört, die Welt in Grossbritannien untergeht und letztlich fast alle nur danach gieren, sich die Körper der Anderen zu unterwerfen. In Exkursen wird jedwede irgendwie bedeutsam scheinende Gegenwartsentwicklung ausgedeutet, so dass die Grenzen zwischen Spiegel-Kolumne und Roman vollkommen verschwimmen. Die Erzählung behauptet sich – man möchte sagen im gleichen Verhältnis zu ihrer Länge – als Instrument der Weltdeutung. Klaus Scherpe sagt in einer Vorlesung: «Wenn seit dem 19. Jahrhundert, von Hegel bis Lukács, aus der Anschauung die Weltanschauung wird, dann siegt, in Gedanken, die zur künstlerischen Norm erhobene, Sinn verheißende Erzählung.» Die dystopische Erzählung, wenn sie nicht mit ganzer Anstrengung gegen die Sinnverengung geschrieben wird, ist sozusagen das Regietheater für Zukunftsentwicklungen, der parteiliche Spielplatz der Weltanschauungen. Nichts muss die Dystopie so sehr fürchten wie die nächste Krise.

Das ist jetzt etwas überdeutlich zugespitzt, und der Streit um Erzählung und Beschreibung ist poetologisch für die engagiertere Erzählung vielmals entscheiden worden. Ausserdem verschlinge ja auch ich – ebenso wie meine Tochter gerade die Bücher von David Walliams – Romane oder lasse mich von ihnen fesseln, darunter auch dystopische Werke wie jener Roman von Marleen Haushofer und Julia von Lucadous Zukunftsvision Die Hochhausspringerin oder die traumhaft schönen Bücher von Eleonore Frey. Jetzt, im Lockdown, in der Zeit einer Krise, die nicht das Gesicht der Literaturkrisen trägt, aber schon jetzt eine Vielzahl eiliger Deutungen (die ja Erzählungen sind) hervorgerufen hat, möchte ich lieber dem genauen Protokoll einer Beschreibung folgen. Mitten in der Krise schafft sie Raum selbst für die Idylle, die wir brauchen, um Luft zu holen. Beschreiben lässt sich ja nur, was man sehen, schmecken, hören, tasten kann (jedenfalls könnte), wenn die vielen Erzählungen der Medien momenthaft verstummen.

Und diese Momente am Rande der Erzählungen, in denen nicht schon alles gedeutet wird, schaffen Raum auch für Kritik, ja, Selbstkritik, an unseren gerade recht schwatzhaften Geisteswissenschaften, die nach Susan Sontags hinreissendem Essay über die Krankheit als Metapher, der den Blick für dergleichen Phänomene geöffnet hat, nun in die Deutungssucht verfallen sind: Wem gebührt der Pokal der Virusdeutung? Was bringt das Virus zum Vorschein, das schon längst in unseren Gesellschaften angelegt war? – Wurde das Orakel schon immer hinterfragt oder ruft erst die massenhafte mediale Inszenierung der Orakel unser Misstrauen hervor? – Vielleicht bräuchte es weniger unberufene Virustheorie als einen neuerlichen Rhetorical Turn: Welche Spiele spielen wir, wenn wir die Erscheinungen der Welt unseren Deutungen unterwerfen? Wie gehen wir dabei vor? Worüber reden wir, wenn wir über das Virus reden? Welchen Nutzen ziehen wir rhetorisch daraus? Geht es um die Deutungsmacht oder um das Ringen um Kohärenz zur eigenen Krisenbewältigung der Schreibenden? 

Einstweilen zöge ich es vor, die Namen der Bäume zu lernen, an denen ich auf meinen Hundespaziergängen vorbeigehe, damit – wenn wieder andere Themen auf der Tagesordnung stehen – niemand sagen möge, wir vermieden das Gespräch über Bäume, weil wir sie nicht zu unterscheiden wüssten.

«Schau, Papa, da hinten leuchtet eine Birke. Und das dort ist eine Buche. Der einzelne Baum mit der Tropfenkrone dort ist eine Linde, und an der Kastanie weiter links lehnt eine Leiter. Das ist mein Lieblingskletterbaum.»

Lockerungsübung (Teil 4)

Gedanken eines Literaturwissenschaftlers in einer Übergangszeit mit ungewisser Richtung

Am Freitag war es so weit. Am Freitag im Homeoffice riefen all jene an, die nun bald wieder arbeiten gehen wollen. Termine für die Kinder, Termine für einen selbst. Sogar die Krankenkasse rief an und fragte, wie es mir gehe in dieser Zeit. Gut, sagte ich, mir gehe es gut. Ob sie aus dem Homeoffice anrufe? Wie es ihr gehe? Ob sie zurecht kämen mit der Organisation der Arbeit? Dass es mir gut gehe, bestätigte ich nochmals. Warum sie eigentlich anriefe? Danke. Ja, es gehe mir gut.

Dazu noch etliche Mails, Skype-Nachrichten und Dropbox-Paper-Mitteilungen von wirklich netten Kolleginnen und Kollegen. Irgendwann war es dann mal genug. Wie soll man eine Vorlesung im Homeoffice vorbereiten, wenn alle wissen, dass man gerade zuhause gut erreichbar ist? Die Kollegin, die dann die rote Stoptaste erhielt, wird es mir nicht übelnehmen. Wenn man in Langzeitforschungsprojekten eigentlich immer am Rand von Belastungsgrenzen zusammenarbeitet, gut ‘eingespielt’ ist, dann gewinnt man eine gewisse Übung in solidarischer Toleranz, kann auch darauf vertrauen, dass die anderen diese Übung haben.

Vielleicht war es auch gar nicht zu viel, sondern einfach immer dasselbe. Dieselbe Wand, derselbe Kaffeebecher, derselbe Zoom-Bildschirm als Kontaktersatz, derselbe Stuhl, der zuhause nicht ergonomisch ist, dieselbe ständig verschmierte Lesebrille. Man kann hundertmal die nackten Füsse auf dem Holzfussboden spüren, das Nachvibrieren der Fingerkuppen beim Tippen auf der irgendwie harten Tastatur oder als Grundübung den Atem, wie er kommt und wie er geht. All das hilft. Sehr. Aber eben nicht immer. «Ich bin nun mal kein Yogi», so hiess ein Buch des DDR-Schriftstellers Joachim Walther, das ich als Buchhandelsgehilfenlehrling auf Osterkundung kaufte und las. Hier passt eher nur der Titel, der mich schon damals anzog – vor allem, weil ich ihn nicht auf dem Buchcover eines Coming-of-age-Buches in einer DDR-Buchhandlung erwartet hätte. Es lohnt sich immer, enttäuscht zu werden.

Ein junger Mann aus Berlin will bei einer Hochwasserkatastrophe helfen, kommt zu spät und sitzt einer esoterisch angehauchten holländischen Bekanntschaft zuliebe herum: «Verdammt noch mal, ich halt das nicht mehr aus, dieses Rumsitzen, ich bin nun mal kein Yogi, ich muß was tun, muß Leute sehen, mit Leuten reden.» (Das Buch, dass ich damals kaufte, hat mein Wanderleben nicht überlebt. Es muss wohl die fünfte Auflage von 1985 gewesen sein.)

Zu tun habe ich genug und hatte ich auch in der Selbstisolation. Gesehen und gesprochen habe ich sehr viele, aber nur digital. Hundespaziergänge gehen immer, helfen meistens, aber …

Vielleicht sind es auch die Selbstzweifel, diese chronische Befindlichkeit von mindestens der Hälfte aller Hochschuldozierenden, ob Lehrkonzepte aufgehen, die Studierenden etwas mitnehmen – und ob der Aufwand, den man mit der Lehre treibt, genügt, zu gross ist, sich eigentlich lohnt usf. Nun gewinnt man mit den Jahren gewiss Routine und auch eine dickere Haut, aber bei den nun notwendigen digitalen Lehrformaten hilft allenfalls letztere (also wenn sie schon recht hornhäutig ist), aber eben keine Routine.

Das ‘schwierigste’ aller denkbaren Lehrformate ist der 90-Minuten-Podcast von einer Dozentin oder einem Dozenten, der oder die nicht so grandios ist wie – sagen wir mal – Matto Kämpf. Obwohl, es reicht bei einer Doppellektion vielleicht auch nicht, Matto Kämpf zu sein. Man kann sich schlichtweg kaum eine intellektuelle ‘Rampensau’ vorstellen, die allwöchentlich 90 Minuten Podcast rocken könnte. Manche geschätzte Kolleginnen und Kollegen bringen es auf 30, 40, 45 Minuten intellektueller Hochspannung. Auch digital, habe ich auch schon angehört. Besonders eben bei Galavorträgen oder jedenfalls besonderen Tagungsauftritten, die dann im Internet verfügbar sind. Bei der wöchentlichen Vorlesung habe ich als Student ‘live’ manche intellektuelle Sternstunde erlebt, aber niemand bietet Woche für Woche eine Sternstunde seines Faches im 90-Minuten-Format, die auch im vor- und rückspulbaren Video ohne Realpräsenz überlebte. Darum geht es ja auch gar nicht. Es geht um anschauliche Vermittlung von Inhalten, am Beispiel gezeigte Zugangsweisen und Methoden (Handwerkszeug), Theorien – nicht um Selbstvermittlung. Aber.

Aber erstens möchte man das ja auch in so einer Situation auf eine Art und Weise machen, dass die Studierenden nicht nur qualvolle Stunden erleben, und zweitens ist es ziemlich langweilig, einen vorbereiteten Vorlesungsstoff irgendwie – und sei es auch so gut, wie es eben ungeübt geht – in die Webcam zu sprechen. Besonders langweilig ist es, wenn man dann doch einmal den Homeoffice-Koller hat.

An diesem Freitag jedenfalls hilft nur noch eine halbwegs kreative Idee. In der Novellenvorlesung geht es um Jeremias Gotthelfs Hochkanonnovelle Die schwarze Spinne. Aus der einen Spinne werden viele schwarze Spinnlein, die Tod und Verderben über das Tal bringen. Ich widerstehe der Versuchung, die aberhundert aktualisierenden Lektüren des Textes um eine pandemische Spinnenplage zu erweitern. Dass sind so Reflexhandlungen in meinem Fach, die wie die Virusdeutungsmoden derzeit die Intellektuellen im routinierten Leerlaufprogramm zeigen.

An diesem Freitag hilft nur der Gang zu den Ursprüngen – und der Kontakt zu Heinrich Schütz, einem der rührenden Leiter des Gotthelf-Zentrums in Lützelflüh. Wie überall sonst sind auch im alten Pfarrhaus, Gotthelfs einstiger Wirkungsstätte, die Türen geschlossen. Am 1. April hätten Museum und Jahresausstellung geöffnet werden sollen. Nun hofft man auf den 9. Juni. Sobald klar ist, dass ich am Samstag das Zentrum für mich haben werde, dort die Vorlesung aufzeichnen kann, drehe ich alle digitalen Kommunikationsmedien auf besetzt und versuche meiner Gotthelfsequenz in der Vorlesung einen einigermassen medientauglichen Schliff zu geben.

Natürlich passiert alles, was so passieren kann: Für vier Vorlesungskapitel von insgesamt etwa 75 Minuten gibt es mit Raumwechseln, Versprecherkorrekturen und ähnlichem mehr dreieinhalb Stunden Drehzeit im und ums Zentrum. Ich sehe mich mit Armen schlackern, als wollte ich davonfliegen. Was mache ich in dieser Szene eigentlich mit meiner Hand? Bei der Begrüssung im Zentrum durch Heinrich Schütz hört man lautes Traktorgeräusch, und das eigentlich gute Mikrophon reagiert bei den Aussenaufnahmen mit Grundrauschen auf den leichten Wind. Bei den Aussenaufnahmen in der Laube sitze ich in einem Meer von Blütenstaub, dass man mich an der Teppichstange ausklopfen könnte. Die Mehrfachrolle von Skriptautor, Kamerafrau, Sprecher, Komparsin und Kaffeeboy ist anstrengend. In der letzten Filmsequenz sitze ich vor der integrierten Webcam wie ein zusammengesunkenes Häufchen Müdigkeit, so dass ich das Bild später beim Schneiden durch einen Museumsrundgang ersetze. Perfektion, das schrieb ich wohl schon, sieht anders aus. Nach so viel Homeoffice war diese Anstrengung ein gutes Ventil, und hoffentlich erreicht das Resultat auch die Studierenden. Das wäre schön.

Blütenstaub, das Gefühl in Gotthelfs Wirkungsstätte am Nachbau seines Arbeitstisches zu sitzen, allein im Museum, der Geruch, das laute Knarzen des Fussbodens. Am liebsten hätte ich Schuhe und Strümpfe ausgezogen …

Das Schneiden braucht dann einige Stunden; das Hochladen der vier Vorlesungskapitel währt eine gefühlte Ewigkeit, doch der Tag ist dann wie ein Geschenk, das nachwirkt – und sei es nur als Erinnerung an die Geräusche im leeren Museum und durch ganz beiläufige taktile Anwesenheit.

Spatzenlärm (Teil 5)

Betrachtungen eines Literaturwissenschaftlers in der Übergangszeit

Zwischen Koppel, Wiese und Acker zieht sich, eine kleine Biegung um einen dicht belaubten Lindenbaum nehmend, ein kiesiger zweispuriger Landwirtschaftsweg den Hügel hinauf, stösst dort auf eine weitere, aber etwas weniger breit ausladende Linde. Links des Baumes fällt das Gelände einige Meter steil ab, rechts hebt sich im sanften Schwung eine Wiese, hinter welcher sich nur der gerade grau bewölkte Himmel erstreckt. Mit Blick in die Siedlung steht eine Bank unter dem Baum, und es braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, dass hier schon viele erste Zigaretten geraucht, Joints gedreht und Küsse getauscht worden sind. Jetzt sind Bank und Weg und Wiese leer. Meine Hündin und ich gehen an der Linde vorbei: links am Hang das niedrige Gehölz, das ich liebe, weil es mich an die Knicklandschaft aus Kindertagen erinnert, rechts die Wiese, die jetzt feucht und schwergrün leicht ansteigt, gesprenkelt von einem Meer unzähliger weisser oder eher noch sehr heller grauer Punkte. Pusteblumenzeit.

Als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Gerade schrieb ich noch von den vielen sonnengelben Löwenzahnflecken.

Die Zeit vergeht. Sie vergeht immer. Ob ich sie jetzt als schneller oder langsamer vergehend empfinde, vermag ich nicht zu sagen. Es ist mehr so, als würde ich im Vergehen der Zeit von Blättern, kleinen Zweigen gestreift, als sei das Gehen näher an der Klebrigkeit des Bodens und als ströme eine dickere Luft spürbarer im Atem. Ich bin ganz sicher: Die Luft hat eine festere Konsistenz.

Es sei bemerkenswert, wie die Spatzen auf die Corona-Krise reagierten. Sie seien viel aufgeregter und lauter. So die Beobachtung in nicht nur einem Internetforum. In meinem Garten schreien die Spatzen wild durcheinander, spotten und scherzen, warnen und balzen – keine Ahnung, was Spatzen tatsächlich alles beschreien. Die Spatzen lärmen so, als wäre es Frühling... und es ist Frühling. Sie schreien, wie ich sie sonst nur am Sonntag schreien höre, und im siebenten Frühjahr in diesem Haus habe ich mich daran gewöhnt. Sie würden mir fehlen, schimpften sie nicht wie ... wie Spatzen eben.

Es lohnt sich immer enttäuscht zu werden. Selbst in den ganz kleinen Dingen, wenn man merkt, dass einem das Alltägliche fremd geworden ist, also die in jedem Frühjahr aufgeregt lärmenden Spatzen ohrenkundig werden. Dann kann man das eigene verfremdete Leben förmlich hören ... Und spüren kann man es auch: beim Gehen, beim Atmen, bei jeder Berührung mit der Vegetation.

Dass es endlich geregnet hat, ist ein Segen, und mir ist, als könne ich es fühlen, wie sich die Wurzeln im feuchten Boden ausstrecken, alles Grün sich vor Nässe zur Nässe hinunterbeugt. Unser Spaziergang ist ein grosses Home Office Glück – eine schöne Pause zur Erholung der trockenen Bildschirmaugen und des Rückens, der mit dem nicht wirklich geeigneten Stuhl am Schreibtisch hadert. An die Freiheit der Spaziergänge haben wir uns gewöhnt wie an das Teetrinken, die Yoga-Übungen am Morgen und sogar an die langen Arbeitstage, die durch keine Pendlerstrecken, Mittagsverabredungen oder Flurgespräche unterbrochen werden. Auch an den Gartensitzplatz, an dem sich an Sonnentagen spatzenbelärmt arbeiten lässt.

Ich wünschte mir aber schon einmal Kolleg*innen dazu.

Allmählich breitet sich eine neue Geschäftigkeit aus. An den Universitäten gilt weiterhin die Empfehlung, zuhause zu arbeiten. Die Lehre findet im ganzen Semester digital statt. In vielen anderen Bereichen öffnet sich das Leben wieder. Im Supermarkt war es so voll wie seit Wochen nicht mehr. Man hört wieder Strassenlärm, und bald werden die Züge in normaler Frequenz am Fenster vorbeifahren. Schon jetzt sitzen mehr Personen in den Abteilen.

In der Vorlesung las ich, nun wieder zuhause, vor einer roten Wand, die mir dafür einigermassen geeignet schien, über Karl Gutzkows Novelle Eine Phantasieliebe, die ursprünglich nach ihrer Hauptfigur Imagina oder Imagina Unruh hiess. Die Erzählung ist nicht mehr allzu bekannt, aber als Initiationsgeschichte einer Künstlerin neben so vielen männlichen Initationsgeschichten allemal lesenswert. Imagina wird als Kind durch den verwitweten Vater so gut wie nicht erzogen und lebt in einer eigenen Märchenwelt, zu der sowohl ein Prinz als auch der Höllenfürst gehören. Damit das verträumte Mädchen, ein Naturkind, endlich gezähmt werden kann, muss es verheiratet werden. Der Vater sucht hierfür den Grafen August aus und schliesst mit dessen Vater einen Kontrakt auf dem Wollmarkt. Hinter allem blitzt die Ironie des Erzählers auf. Eine der schönsten Passagen ist die Hochzeitsreise des jungen Paares. Imagina soll auf dieser Reise das Kunststück vollbringen, aus ihrer Märchen- und Mädchenwelt in die Welt der Ehe und der schönen Reichen überzutreten. Der oberflächliche Graf und Lebemann durcheilt mit seiner frisch angetrauten Gattin in eigener Kutsche oder auch einem Eisenbahnwagon erster Klasse damalige Hotspots wie Luther- und Goethestätten, um – so das Ziel des Grafen – in einen jener deutschen Badeorte zu fahren, wie sie noch Dostojewski in seinem Roman Der Spieler beschreibt.

Imaginas lebendige Phantasie hält mit dem Tempo des Grafen nicht mit. Sie schreibt ein Reisetagebuch, in welches sie an jeder Station zunächst nur wenige Worte notiert. Erst in Baden-Baden kommt Imagina dazu, diese Notizen auszuführen, und sehr intensiv lebt sie die Reisestationen dabei nach. Freilich hat dies zur Folge, dass sie körperlich in Baden-Baden weilt, mit Herz und Geist aber noch in einer der Zwischenstationen. Dem modernen schönen Lebemann Graf August dagegen geht es nicht schnell genug. Er entschwindet umgehend in das gesellschaftliche Leben des Badeortes, und beide werden hier auch nur noch momenthaft sich am gleichen Ort befinden.

Wie wird es sein? Wie wird es sein, wenn sich das Leben der einen nach und nach wieder in den Gleisen des Vorher bewegt, während die anderen im Home Office bleiben? Werden wir Dozierenden an den Hochschulen wie lauter Imaginas in einer Welt von digitalen Lehrveranstaltungen, mehrstündigen Switch- oder Zoom-Meetings und Skype-Sprechstunden leben, während andere schon wieder in Büros und Nahverkehrszügen sitzen? Ich stelle mir vor, wie in den Supermärkten die eiligen Abendeinkäufer*innen, die noch schnell etwas zum z’Nacht brauchen und schon am Gemüsestand die günstigste Kasse aussuchen, auf die gelassenen Homeofficemenschen treffen, die sich im anhaltenden Social-Distancing-Modus befinden und womöglich immer noch zu Hamsterkäufen neigen. Werden wir am Ende in der gleichen Zeit physisch und psychisch ankommen? Und welche wird es sein? Die Welt in der Logik des Vorher? Die Realität der zweiten Welle? Eine neue Logik des Nachher, an der die intellektuellen Astrologen seit Wochen herumdeuteln? Es kündigen sich Verschiebungen an: eine Drift, die Zeit und Ort verschiebt, eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen schafft. Das weckt schon jetzt Ungeduldige, die den vorübergehenden Meinungsfrieden nicht aushalten. Seit Tagen schon wird die für einmal angeklungene kollektive Vernunft brüchiger; in jeder Zeitung sagt einer oder eine ‘Ade, Vernunft’ und wechselt die Seite.

Gefühle des Übergangs. Da ist sie mit Händen zu greifen: die eigene aufsteigende Unruhe.

Imagina hat Glück. Sie darf sich von den Mädchenphantasien emanzipieren, die ihr Leben und Erleben gefangen hielten, aber sie kann auch der Ehe und der Welt der Schönen und Reichen entgehen. Ihr Glück ist es, weder mit dem Grafen noch mit dem Prinzen der Träume eine Ehe führen zu müssen und sich als freie Frau der Kunst widmen zu können.

Während der Computer rechnet, um die nächste Vorlesungssequenz in eine Videodatei zu konvertieren, die dann auf die Lernplattform hochzuladen ist, gehe ich in den Garten. Es regnet leicht, und ein sanfter Wind geht. Ich bitte, es möge am Wetter liegen, dass die Spatzen jetzt leiser sind. Der Himmel ist grau und der Garten unglaublich grün. Ich sollte barfuss gehen.

Irgendwie schon wieder normal (Teil 6)

Betrachtungen eines Literaturwissenschaftlers in der Übergangszeit

Manche sind Pendler*innen, ein paar zu den Eltern gezogen, jemand hat mal kurz die Wohngemeinschaft gewechselt und einer hat überhaupt erst im Team begonnen, als wir schon im Lockdown waren. Das sei für ihn schon gewöhnungsbedürftig, dass er seine Kolleg*innen nur virtuell, digital, also irgendwie flimmernd kennenlerne. Das sagt der, den nur zwei aus dem fünfzehnköpfigen Team in dreidimensionaler Gestalt gesehen haben. Vielleicht werde er in seiner Arbeitszeit im Projekt manche Kolleg*innen überhaupt nur virtuell sehen. Er ist vorübergehend da, als Übersetzer. Auf dem Bildschirm ist er in der Videokonferenz der Forschungsstelle ein Rechteck unter anderen Rechtecken. In der Gitteransicht sind wir alle ein Team aus gleichförmigen Rechtecken. Auch ich. Uns unterscheidet nur die Farbverteilung auf der Fläche, die Helligkeit der Gesichtsausleuchtung, und manchmal ist eine oder einer ganz eingefroren, macht ein aus der Bewegung gegriffenes Gesicht und ruckelt sich dann wieder in eine normal bewegte Ruhe. Einer sitzt im Dunkeln, jemand liest in Papieren, eine schaut zwischendurch aus dem Fenster. Im Hintergrund Bücherregale, Katzenfotos, Kinderzimmereinrichtungen, Fensterdekorationen, ein Poster von einem Stich, auf dem ein grosser Pottwal abgebildet ist, oder eine strahlend weisse Fensteröffnung, die die davor sitzende Gestalt in einen schönen Glanz hüllt, der aber auch nur eine andere Verteilung von Farben und Helligkeit unter den fünfzehn Rechtecken ist.

Alle Mitarbeitenden der Forschungsstelle beschreiben der Reihe nach ihre Erlebnisse im Homeoffice und berichten vom Stand ihrer Arbeiten. Arbeitspläne und Arbeitsergebnisse werden wöchentlich oder häufiger in Teilgruppen diskutiert. Die Fortschritte sind gut – trotz oder wegen dem Homeoffice. Die Gesamtteamsitzung dient vor allem dem Überblick und dem Austausch. Man hört Wohngemeinschaftskollegen, Kindergeschrei, Spatzen und wahrscheinlich meine Hündin, die sich nun laut knurrend im selbstverliebten Spiel rücklings auf dem Teppich hin- und herwirft.

Es ist 16 Uhr, alle haben bereits einen längeren Tag zuhause im Büro hinter sich.

Mein Tag war dicht gefüllt, eigentlich auch erfüllt. Das Seminar über Friedrich Schleiermachers Reden Über die Religion mit den Kollegen P. und S. macht einfach Spass. Man würde das wohl Basar oder Fischmarkt nennen, wenn es ein Präsenzseminar wäre, denn eigentlich reden alle gleichzeitig. Das mag man sich in einem Seminarraum nicht vorstellen. Jetzt aber findet die gesamte Diskussion in einem kollaborativen Textdokument statt. Die Studierenden erarbeiten sich in Kleingruppen die fünfte der Reden, kein einfacher Text, schreiben parallel in das Onlinedokument. Eine so intensive gemeinsame Arbeit, bei der alle Einzelnen sich durchgehend aktiv beteiligen, eigene Gedanken schreiben, Ideen der Anderen kommentieren und auf die Kommentare der Dozierenden reagieren, ist ein Gewinn. Wir sind uns so ziemlich einig, dass diese Form kein Ersatz für eine Präsenzveranstaltung ist, sondern ein Veranstaltungstyp eigenen Werts. Keine Spur von einem verlorenen Semester in diesem Kurs. Es fällt mir schwer, mich zum Seminarschluss aus der Diskussion zu verabschieden, aber es wartet eine zweistündige Editionssitzung.

Die Mittagspause ist kurz und der Hundespaziergang auch. Beim nachbarlichen Hof gleiten die Mehlschwalben in wahnwitzigen Bögen durch die Luft, flach über dem Boden, fast schon knapp an mir vorbei. Etwas weiter über der hochstehenden Wiese sind es die Mauersegler, deren klar gezeichnete, bumeranggleiche Flügellinie dicht über die Halme zischt. Auf dem Rückweg sehen die Mehlschwalben in ihrer Flugakrobatik dann fast schon plump aus im Vergleich. Einen Moment spüre ich die schwere Feuchte der Luft im Gesicht, in den Lungen.

Schon ist die nächste Sitzung vorzubereiten, eine Arbeitsbesprechung für die Gestaltung der digitalen Gotthelf-Edition. Diese bringt wiederum gute zwei Stunden intensiver Arbeit am Bildschirm. Eine Pause vor der grossen Forschungsstellensitzung gibt es nicht. Da ist es aber auch so schön, die Kolleg*innen zu sehen, auch wenn sie nur in Rechtecken aufgereiht auf dem Bildschirm hängen. Jede und jeder erzählt aus dem eigenen Bereich. Die Arbeitsfortschritte lassen sich sehen, alle haben sich mit dem Homeoffice arrangiert, manche sehen Vorteile, andere möchten wieder ein Originalmanuskript im Archiv sehen und nicht nur mit Fotos von Handschriften arbeiten. Am liebsten möchte man alles: Originalmanuskripte, lebendige Kolleg*innen und Homeoffice. Wenn das einmal vorbei ist, werden wir genug Erfahrungen haben, um über all dies neu zu reden: über die Vorteile des Homeoffice, über die Nachteile des Pendelns, über die Bedeutung menschlicher Kontakte zu Kolleg*innen etwa.

Inzwischen haben wir einen digitalen Apéroraum, der zweimal in der Woche am Abend allen zur Verfügung steht, die Geselligkeit suchen. Neulich waren wir drei, die über Melvilles Moby Dick und die Frage, wie die Welt hinterher wohl aussehen werde, diskutierten. Heute sind wir auch drei und fragen uns, wie sich das Leben verändert habe, seither. Wir stellen fest, dass wir ausgangsunlustig geworden sind, und wir fragen uns, ob das Reisen hinterher erst recht Fahrt aufnehmen oder zurückgehen werde. Und wo werden die Kreuzfahrtschiffe verrosten? Oder existieren sie durch Supersparangebote noch eine Weile weiter? Diesen touristischen Gigantismus, sagte neulich P., eine meiner Nachbarinnen vom Hügel, habe sie noch nie gemocht. Der Wahnsinn von Ressorthotels und Kreuzfahrtschiffen sei ohnehin fragwürdig gewesen.

Im virtuellen Apéroraum höre ich vertraute Spatzen; N. steht auf dem Balkon, und es sind Berner Spatzen im Kopfhörer als wären es die Hausspatzen auf meinem Balkon. Bei K. hört man die Sirene eines Notfallwagens. Meine Hündin sucht Nähe. Fast eine kleine Idylle.

Am Abend esse ich dann schnell, telefoniere bei einem Glas Wein mit einer guten Freundin über Erfahrungen in der digitalen Lehre – und auch über unsere drei gemeinsamen Kinder. Die Studierenden loben die Novellenvorlesung, die dennoch nach neuem Modell recht mässig evaluiert wird. Im Lockdown steigt die Empfindlichkeit; die Evaluation beschäftigt mich sehr. Unterstützung kommt von den Studierenden; sie sind es ja, für die ich meine Lehre mache. Ich hadere damit, ob ich unsere Kritik am neuen Evaluationsverfahren für mich behalten soll. Vielleicht würde sie helfen, die Evaluation zu verbessern. Zweifel und Scham sind ein willkommenes Futter für einen im Lockdown empfindlich grüblerischen Geist. Es ist leicht, abzudriften in dieser Zeit.

Überall zieht es Protestierende auf die Strasse. Ich suche nach einem Instrument, um berechtigte Kritik von diesen Unruhen unterscheiden zu können. Bekannte Rechtsradikale, die angeblich für Bürgerrechte eintreten, radikale Impfgegner, allzu phantasievolle Bill Gates-Kritiker, anscheinend für jede Verschwörungstheorie brauchbare Anthroposophen, nationalökologische Populisten ... Sie alle scheinen sich dort zusammenzufinden, aber die Bilder in der Presse sehen zu sehr nach Übertreibung aus. Man müsste näher dran sein, um es zu beurteilen. Es sind trotz allem Wenige, vielleicht, so hoffe ich, bloss Verirrte und kein neues Amalgam. Da im öffentlichen Raum sonst nicht viel geschieht, rankt die Phantasie auch um die Wenigen ihre Bilder.

Nicht alles spielt sich bloss in der Presse ab. Ich denke an den deutschen Kollegen, der in den sozialen Medien an das Widerstandsrecht erinnerte, weil er nicht Tennis spielen durfte. Das hat mich tagelang beschäftigt.

«Andererseits», so schreibt R. in einer Mail, habe die Figur des Corona-Streikbrechers oder der Corona-Streikbrecherin literarisch durchaus etwas für sich, jedenfalls in der Fiktion. R. ist ein phantasievoller Wortkünstler. Ich stelle mir also eine Art Schelmenroman vor, einen Lazarus oder besser noch einen Schelmuffsky, der durch die Welt stolpert, keine Hygieneregeln beachtet, also keine Hände wäscht, jedweden Körperkontakt sucht, ein solches Aufsehen erregt, dass es zu Massenaufläufen kommt, als sei es Gurten-Festival-Zeit, der natürlich erkrankt, Manns- und Weibspersonen verküsst und verhustet. Im Grunde ist er ein armer Tropf, der eine Welt ohne menschliche Nähe nicht erträgt. Und wer ertrüge sie schon.

Die Welt taucht inzwischen ein in eine eigene Mischung von davor, dazwischen und danach. Der Takt der Nahverkehrszüge steigt, die Reisendenzahlen ebenfalls. Am Bahnübergang stauen sich wieder die Radfahrer*innen auf dem Weg zum Bahnhof, wenn die Schranke geschlossen ist. Wer möchte noch an all die warnenden Reden denken, die gegen die Lockdown-Massnahmen vorgebracht worden sind? Selbst die häusliche Gewalt soll in der Schweiz nicht zugenommen haben. Nur wenige würden darauf wetten, wie es weitergeht. Und diejenigen, die genau zu wissen angeben, wann die zweite Welle kommen werde oder dass es nicht einmal eine erste Welle gegeben hätte – auch ohne Massnahmen –, dürfen in den Kommentarrubriken heute unbelauscht streiten.

Aber von sich selbst schreiben, das ginge ja immer. Ich setze mich hin und schreibe über einen irgendwie schon wieder normalen Tag.

Ein Hausrotschwanz, der unverhofft vor meinem Fenster im Strauch sitzt, weckt traurige Erinnerungen, die ich für jetzt beiseiteschiebe.

Ein stilles Buch (Teil 7)

Betrachtungen eines Literaturwissenschaftlers in der Übergangszeit

Als Erstes verschwindet die Stille, so denkt man. Noch bevor sich das Leben wieder in eine fallengelassene Zeitnaht einfädelt und einem fremd gewordenen Stich folgen möchte, öffnen und schliessen sich die Reissverschlüsse des Strassenverkehrs, der wieder an Ampeln stockt, an Kreiseln kreist, an Fussgängerüberwegen erbost und eher nicht die Fahrt verlangsamt, um bitte noch vor dem dort stehenden Radfahrer mit seinem angeleinten Hund irgendwohin durchzukommen. Dieser, der Radfahrer also, war freilich zu sehr in Gedanken, um den Lärm zu hören, und so ist es der Atem, der ihm zuerst abhandenkommt, nicht die Ruhe. Denn es stinkt. Es stinkt erbärmlich nach Feierabend. In einem breiten Streifen neben der Verkehrsader, welche hier die Kleinstadt durchschneidet wie andernorts Felder, Wiesen, Waldstücke, ist Atmen wieder ein Euphemismus. Man kennt das ein wenig vom Heimkehren aus verlassenen Gegenden, wenn man in die Stadt zurückkommt. Aber das ist ein eigenes Erlebnis, wenn die Welt nach dem Lockdown wieder in den eigenen Gestank eintaucht. Also nicht die Welt, sondern wir, wir in unseren eigenen Gestank.

Das war am Montag im Feierabendverkehr derjenigen, die wieder einen Feierabend haben. Für mich war es die Zeit zwischen editorischen Fragen zu Gotthelfs Roman «Uli der Knecht» und einem Vortrag in Wien, also einem digital aus Wien übertragenen Vortrag über den Autisten als Figur der Gegenwart, den ich sonst nicht hätte hören können. Selbst wenn der Vortrag in Bern stattgefunden hätte, hätte ich irgendwie organisieren müssen, wie meine Hündin zu ihrem Spaziergang kommt. Ich hätte irgendwo schnell ein Sandwich verdrückt, das ich nicht vertragen hätte. Ich hätte nicht in meinem Ohrensessel gesessen, sondern eingezwängt in irgendeine dreh-, drück- oder schiebbare Bankbestuhlung. Vielleicht wäre ich auch nicht rechtzeitig dort gewesen, hätte irgendwo hinten in einem Hörsaal gesessen und zwischen Räuspern und Hüsteln den Vortrag nur so gerade eben verstehen können. Aber ja: Ich hätte Kolleg*innen getroffen, hätte davor und danach diskutiert, geplaudert, rasche Informationen ausgetauscht.

Nun sass ich in der ersten Reihe, bequem im Sessel, eines dieser Rechtecke auf dem Bildschirm unter vielleicht 75 anderen, die sich auf mehrere Kachelseiten verteilten. Unter den Rechtecken Kolleg*innen, die ich vor etlichen Jahren zuletzt auf Konferenzen sah. Viele sind mir unbekannt. Der Vortrag ist interessant; die Sprecher*innenansicht bringt mir die Referentin Novina Göhlsdorf mit ihrer Präsentation ins Wohnzimmer. Um die Augen vom Flimmern zu beruhigen, schaue ich zumeist in die Landschaft. Dort hinten ist die Wiese jetzt gemäht, also die Pusteblumenwiese, eine helle gelbgrüne Fläche. Nach dem souverän gehaltenen Vortrag entwickelt sich eine interessante Diskussion, die ich schliesslich verlasse, um noch ein paar Schreibtischdinge zu erledigen und Mails zu beantworten.

Am Donnerstag notierte ich eine Liste der Vögel, die ich dieses Jahr in meinem Garten gesehen habe: Spatz, Blaumeise, Amsel, Drossel, Mönchsgrasmücke, Elster, Saatkrähe, Kleiber. Eine einzelne Saatkrähe kommt seit einigen Tagen vorbei, hüpft im Beerengarten von Holzpfahl zu Holzpfahl und schaut sich neugierig um, bevor sie mit breiten Schwingen jeweils tief über die Wiese davonzieht. Einmal landete sie in der Weide, einige Male spähte sie von den Metallpfeilern der Bahnoberleitungen auf das Grundstück. Mauersegler ziehen nur ab und an durch den Himmel, verweilen hier nicht. Ebenso in ihrer eigenen Flugweise die Türkentauben.

Den Hausrotschwanz erwähnte ich schon, der mich an Jürgen Donien erinnert, weil ich ihn zuerst bewusst hörte, nachdem er gestorben war. In meinem Kopf ergänze ich die Liste der Vögel mit den Namen verstorbener Kolleg*innen. Nadja, die sich als Puschkin auf der Bühne des Studententheaters theatralisch die Pistole an die Schläfe setzte und an einer Lungenentzündung starb, 28jährig. Jürgen Donien, der bei unserem letzten Treffen so herzhaft gelacht hatte und dann seinem Krebs erlag. Matthias Osthof, der am Herzpuls des Gotthelf-Teams lebte und eines morgens einfach nicht mehr aufwachte. Julia Wannenmacher, die es freuen würde, in einer Reihe mit den Vögeln in meinem Garten genannt zu werden, und so lange krank war, dass ich dachte, ich würde es merken, es aber nicht spürte, als sie starb – im vergangenen Oktober.

Allmählich will die Zeit wieder in jenen anderen Takt zurück, der nicht von Löwenzahn und Pusteblumen oder vom Heuen bestimmt ist. Natürlich klingt das weltflüchtig. Wir wissen doch, dass die Konservativen, die Landflüchtigen und Ökofreaks die sind mit der kreisenden Zeit im Kalender und alle die Progressiven, Liberalen auf der dynamischen Welle des Fortschritts in die Zukunft surfen. Jetzt aber sind (und eigentlich schon waren) wir einfach hinausgeworfen aus der Dynamik, gezwungen hinzuschauen. Wer Glück hat, kann noch die Anderszeit spüren.

In meine Hand gerät ein stilles, leichtes Buch, das die Autorin selbst so genannt hat. «Frau Agathens Sommerhaus. Eine stille Geschichte.« Eine Berner Autorin und Germanistin, Lilli Haller, schrieb es so etwa 1929/30. Noch im Trauerkleid kommt die Übersetzerin Agathe nach dem Tod ihres Vaters, bei dem sie nach einer frühen, gescheiterten Ehe wieder gelebt hat, in das Haus des abwesenden Freundes Robert, eingeladen, dort den Sommer zu verleben. Der Sommer bringt einen prachtvollen Garten und zwischendurch Kindergäste, die aber, wie es ausdrücklich heisst, die Ruhe Agathes mit sich selbst nicht stören. Am Ende des kurzen Romans wird Robert erscheinen. Die lange Freundschaft wird aber nicht in eine Beziehung münden. Agathe reist in der erneuten Abwesenheit des Freundes reiflich entschlossen fort, um ihre Arbeit wieder aufzunehmen.

Der Roman lässt sich in mancher Hinsicht schnell erschlagen: Es passiert eigentlich nichts, man wäre gerne näher bei der Übersetzerin, damit deutlicher markiert wäre, dass sie nicht allein arbeitet, weil sie keinen abgekriegt hat, und in der Komposition stört ein allzu patriotisches Kapitel zur Bundesfeier, das keine Funktion im Text hat und wie ungeschickt okuliert wirkt. Trotzdem habe ich die 200 Seiten nahezu in einem Zug gelesen, weil die Autorin auf eine stille Weise immerzu in den Garten des Sommerhauses schaut und zum Mitakteur der Geschichte macht.

Das ist die Grammatik der Sommergeschichte: Aus einem irgendwie hektischen, gedrängten, zerstörten Alltag führt sie ihre Figuren in eine andere Zeit, die nach dem Kalender des Sommers und nach dessen Rhythmus verläuft, und irgendwann wirft sie ihre Figuren wieder aus. Dazwischen ruht die sanfte Melancholie des Sommers, die Raum schafft für eine Fülle der genau angeschauten Blumen, für die Hinwendung zu Anderen, den beiden Zufallskindern, und für den stillen Abschied Agathes von einer neuen Liebe.

Der Lockdown ist keine Sommergeschichte. Er ist überhaupt keine Geschichte, auch wenn an seiner Narration schon eifrig gestrickt wird – auf der Strasse wie in den Feuilletons. Der Lockdown ist aber manchmal wie ein stilles Buch gewesen, also wenn man es geschafft hat, sich einfach dem Schauen hinzugeben: Wie ist das eigentlich im Homeoffice? Wie verändert es mein Leben, wenn ich Zeiten, die ich sonst in Pausen, Mensen, Pendelstrecken verbringe, in der Ruhe eines Gartens ausbreiten darf? Welche Unruhe steigt auf, wenn ich von diesen oder jenen Tätigkeiten, Leidenschaften, Gewohnheiten abgeschnitten bin? Halte ich das überhaupt aus?

Am Freitag begannen die Solothurner Literaturtage ebenfalls digital mit einem Gespräch zwischen der Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die ganz erfüllt ist von der Dynamik, dem Druck (und der Macht?) der Entscheidungen der letzten Wochen, und der Autorin Simone Lappert. Gegenseitiges Interesse ist spürbar. Lappert beschwört die Kultur als Begegnungsraum, möchte vielen Leuten in gemeinsamen Räumen wieder begegnen. Mir reicht gerade mein Garten, die Begegnung mit den Spatzen und der weite Raum, der sich noch nicht ganz wieder geschlossen hat.

Später höre ich ein Gespräch mit Peter Bichsel, der auf die Frage nach dem geeigneten Thema für eine Kolumne antwortet: «wenn möglich etwas ganz Gewöhnliches.» Ein Kollege sagt über meinen Blog, man müsse es jetzt direkt aufschreiben, was man erlebe. Später werde alles zerredet.

Am Ende des Lockdowns muss ich mich immer wieder zwingen, den Faden zu verlieren.

Schon ist die Tür geschlossen (8. und letzter Teil)

Ein Rückblick

Der Frosch, wenn er still sitzt, ist ganz Schauen, ganz hockende Masse, ein amphibischer Buddha. Wird er erschrocken, ist er ganz Muskel, ganz Sprung, ganz Aufplatschen und Eintauchen. Ein Mensch könnte nie so ins Wasser springen wie ein Frosch, ohne sich in den Augen der anderen als lächerlicher Froschspringer zu sehen. Nur selten kann er so sitzen, ohne ans Springen zu denken oder ans Nass. Wie lange braucht der Frosch, bis er sich unter Wasser vom Schrecken erholt hat? Denkt er an die Gefahren? Werweisst er, wer ihn aufgeschreckt hat – Reiher, Storch, Mensch oder Katze? Ich stelle mir vor, er ist ganz Wasserwesen im Wasser, ganz eingetaucht ins kühle Nass und schon wieder mit der Wahrnehmung der unmittelbaren Umgebung beschäftigt: mit dem Schlamm, den Steinen, dem Teichpflanzenkorb des Seegrases, der Trübung und dem Wasser eben.

Schon nach wenigen Tagen war er da. Gerade erst hatte ich zwei Löcher zwischen die Rosen gegraben, passend für zwei runde Mörtelwannen, die als Miniteiche nun mit Wasser gefüllt sind. N. kam vorbei, schenkte dem Garten, dem Wasser und mir eine Seerose. Weitere Pflanzen wie eine Kardinalslobelie, eine kleinblättrige Schwimmpflanze und das Teichgras ergänzten später die Begrünung. Da war der Frosch schon da. Zuerst dachte ich, einer der Spatzen wäre ins Wasser gefallen und müsste – tata! – von mir gerettet werden. Als ich im Garten anlangte, war es ein Frosch, nach meiner Vermutung ein Teichfrosch, der, alle vier Gliedmassen von sich gestreckt, vor dem selbstberufenen Spatzenretter entsetzt platschgurgelnd ins Wasser sprang und also verraten war. Er lebt nun dort.

Wenn ich an den Bottichen vorbeigehe, denke ich manchmal an einen Satz des wunderbar leisen ostdeutschen Schriftstellers Hanns Cibulka: «Wir alle haben verlernt, vor dem Tier einen kleinen Umweg zu machen, damit auch die Kreatur genügend Raum zum Leben hat.»

Noch gilt für die Universität die Aufforderung, möglichst im Homeoffice zu arbeiten, und obwohl mit dem Semesterende eine sattsam gefüllte Zeit der Projektorganisation und Forschungsarbeiten beginnt, ist der Garten also immer noch nah. Zugleich ist es lauter geworden. Die Frequenz der Züge hinter dem Garten hat zugenommen. Am Bahnhof lärmt eine Grossbaustelle, und die Pfingsttage werden vom aufdringlichen Lärm eines Kleinflugzeugs durchbrochen. Das Geschäftsleben hat wieder begonnen. Dass ich unbedingt Teichpflanzen haben wollte, gab immerhin Einblick in das Parkplatzgedränge beim Gartencenter – und in den eigenen Anteil daran, obwohl ich ja seit Jahren schon keinen eigenen Wagen mehr besitze. Auch das gesellige Leben fasst wieder Fuss. Ich war für Sonntag in der Familie, für Montag bei Freunden eingeladen, und inzwischen sammeln sich auch Arbeiten, die einen Gang ins Büro notwendig machen.

Zurück geht es nicht mehr. Selbst wenn aufgrund nachlassender Vorsicht ein zweites Mal die Erkrankungszahlen rasch ansteigen sollten, wird es diesen Wechsel aller Lebensverhältnisse im Lockdown nicht mehr geben. Sei es, dass wir genug Erfahrung gesammelt haben, sei es, dass zu vielen die Geduld abhanden gekommen ist oder die wirtschaftlichen Folgen tatsächlich bedrohlich würden. Es gibt viele Gründe für die Annahme, dass dieser Moment des Lockdowns die einzige kollektive Erfahrung einer anderen Lebensform sein wird, die wir Heutigen erleben werden. Wer jetzt nicht die Stille der Welt oder die gemeinschaftliche Hingabe an bedürftigere Andere erfahren hat, wird dies in dieser radikalen und kollektiv zugänglichen Weise nie wieder in seinem Leben erfahren können. Schon hat sich eine Tür geschlossen. Schon ist die Anderswelt der direkten Erfahrung entzogen. Schon beginnen die Interessen ihre Erzählungen. Das Nachher baut seine Brücken ins Vorher auf ausgetretenen Pfaden. Fast alle Erzählungen vom Staat, der die Wirtschaft behindere und nun Schadensersatz leisten solle, von den Frauen, die einmal mehr die Last der Krise trügen, von den angeblich so vielen Faulen, die den Lockdown als Ferienzeit gebraucht hätten, dienen nur der Bestätigung des ohnehin Geglaubten, werden ohne den nüchternen Blick einer genauen Analyse vorgetragen.

Hanns Cibulkas lyrische Tagebucherzählung über einen Besuch auf der Hauptmann-Insel Hiddensee, «Seedorn», erschien 1985 im Mitteldeutschen Verlag. Ebenso wie den bereits genannten Adoleszenzroman von Joachim Walther erstand ich den schmalen Band als Buchhandelslehrling auf Ostdeutschlandfahrt. Gelesen habe ich ihn erst später; an stille Bücher muss man sich heranleben.

In einer kurzen Notiz, die sich auch auf das Hauptmann-Bild in der DDR-Germanistik bezieht, kritisiert Cibulka mein Fach: «Es gehört zu den Irrtümern der Zeit, daß einige immer noch der Meinung sind, Germanisten würden von einem Autor mehr verstehen als das Publikum im Parkett. Wahr ist, sie sehen den Autor allzu oft durch ihr eigenes ästhetisches Gitter, sie führen fast alles auf festgelegte Kriterien zurück.»

Die Geisteswissenschaften haben eine Mitverantwortung für die Krise der Intellektuellen, von der in den Feuilletons nach einer anfänglichen Pandemiedeutungswut häufig die Rede war. Sie ist auch das Produkt unserer kulturwissenschaftlichen Slogans und auch Resultat einer Nachwuchspolitik, welche die Karriereplanung auf geschickt vermarktete und in den Thesen anschlussfähige Arbeiten aufbaut. Anleitungen für Bachelor- und Masterarbeiten, Dissertationen, Stipendien- und Forschungsanträge ähneln sich heute sehr weitgehend in der Grundperspektive: «Mit der Formulierung der Forschungsfrage steht und fällt das Gelingen jeder wissenschaftlichen Arbeit, denn sie bestimmt, welches Material zitiert, wie die Argumentation aufgebaut wird und was das Ziel ist.» (Quelle: Website Bachelorprint.ch). Gerade bei begabten Studierenden, die mit Plänen für eine Masterarbeit in eine Sprechstunde kommen, zeigt sich nicht selten: Es fällt ihnen nicht schwer eine kluge Forschungsfrage im Sound der Cultural Studies zu formulieren, und sie suchen dann nach Texten, die sich eignen, um diese Forschungsfrage zu beantworten, die dann eine rhetorische Frage ist und also die eigene Bestätigung einfordert.

«Ich glaube, Leute die gut denken, denken zu schnell,» sagte Peter Bichsel bei den digitalen Solothurner Literaturtagen.

Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe Studierender habe ich vor einigen Semestern das amerikanische Methodenhandbuch «Rhetorical Criticism» der didaktisch sehr begabten Sonja K. Foss durchgearbeitet, das inzwischen in der fünften Auflage erschienen ist, aber an hiesigen Universitäten kaum Aufmerksamkeit erfahren hat. Es handelt sich um eine Art Werkzeugkasten zur rhetorischen Textanalyse und um eine praktische Anleitung zum wissenschaftlichen Schreiben. Die Studierenden waren erstaunt, als sie dort über die Arbeitsschritte auf dem Weg zu ihrer Arbeit lasen: «(1) selecting an artifact; (2) analyzing the artifact; (3) formulating a research question; (4) reviewing relevant literature […]; (5) writing the essay […].» Am Anfang mancher eigenen Forschungsarbeit stand eine Irritation, nicht selten ein Buch, verstaubt in einem Antiquariat, weit ab vom Kanon des bildungsbürgerlichen Bücherbords, dessen Titel, Entstehungszeit, Aufbau oder Inhaltsaspekt nicht in mein anstudiertes Wissen passte. Der Zufall als Korrektiv des Denkens.

«Beobachten ist Schauen mit einem Vorurteil,» sagte Bichsel bei gleicher Gelegenheit. Der US-amerikanische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Charles Johnson rät in seinem Essayband «Turning the Wheel» als Kur gegen die Fallstricke des Denkens zur Beschreibung: «description, which both philosophy and fiction share as a tool for unlocking the truth.» Cibulka beschreibt die sinnliche Erfahrung eines Sonnenaufgangs über dem Meer: «Die göttlichste Gabe des Lebens beginnt: das Schauen.» An seinem Buch gefällt mir das mäandernde Denken zwischen den Momenten einer Hingabe an die Unmittelbarkeit des Hörens, des Riechens und des Schauens. Ein Text mit lauter kleinen meditativen Inseln. Es kann kaum anders sein, dass Cibulkas «Seedorn» ein wirkliches Tagebuch zugrunde liegt. Die direkte Erfahrung überlebt in den Erzählungen nicht.

Man muss in der Anderszeit aufmerksam gelebt haben, um aus den unmittelbaren Erfahrungen sprechen zu können. Listen helfen:

Liste positiver Erfahrungen im Lockdown,

Liste der Schwierigkeiten.

Liste der Vögel in meinem Garten,

Liste der Vögel auf Spaziergängen: Mehlschwalben, Mauersegler, Stare, Saatkrähen, Gabelweihen, ein Turmfalke (rüttelnd, später seine Beute zerzupfend), Spatzen, nur ein Stieglitz, Buchfinken, ein Fischreiher, Kohlmeisen.

Liste der Frösche: Freddy.

Nachweise

Giorgio Agamben, Zur Corona-Krise: Wir sollten uns weniger sorgen und mehr denken, in: Weiterlesen

Georg Soldner, Das Coronavirus, in: Weiterlesen

Klaus Scherpe, Beschreiben, nicht Erzählen! Beispiele zu einer ästhetischen Opposition: von Döblin und Musil bis zu Darstellungen des Holocaust Antrittsvorlesung 20. Juni 1994 - Weiterlesen

Beat Sterchi, Auftakt mit Voltaire - Weiterlesen