Super schnelle Artbildung dank Tauschnetzen

Mit Genom-Analysen von 100 Buntbarsch-Arten beschreibt ein Team des Wasserforschungsinstituts Eawag und der Universität Bern gemeinsam mit Kollegen in Australien, England, Tansania, Uganda und den USA frappante Unterschiede in Geschwindigkeit und Häufigkeit der Artbildung von Buntbarschen. Die Forschenden zeigen, wie der Austausch von Erbgutvarianten zwischen bestehenden Arten die Bildung neuer Arten massiv beschleunigt, sofern die ökologischen Bedingungen stimmen.

Evolution beruht auf Mutationen im Erbgut. Sammeln sich viele dieser zufällig auftretenden Veränderungen in einer Population an, kann eine neue Art entstehen. Artbildung nach diesem Muster dauert Jahrmillionen. Entwickelt sich die junge Art unter Selektionsdruck, kann es auch schneller gehen; doch dann kommt es meist nur einmal zur Bildung einer neuen Art, weil dabei die alternativen Erbgutvarianten aussortiert wurden und das evolutionäre Potential somit aufgebraucht ist. Doch im erdgeschichtlich jungen Viktoriasee sind neue Buntbarscharten in den letzten 15'000 Jahren entstanden – und das gleich 500mal.

Wie das möglich ist, untersucht der Evolutions- und Fischbiologe Ole Seehausen mit einem Team der Eawag und der Universität Bern in einer Studie, die eben im Fachblatt «Nature» erschienen ist.

Super schnelle Artbildung

Buntbarsche (Cichliden) sind das Paradebeispiel für eine «Adaptive Radiation» – für Artbildung und ökologische Differenzierung auf der Überholspur. Cichliden sind die zweitgrösste Wirbeltiergruppe der Welt und der Bildung neuer Arten gewiss nicht abgeneigt. Aber viele der 1712 Cichliden-Arten, die bis 2019 wissenschaftlich beschrieben wurden, sind weniger schnell oder sogar ausgesprochen langsam entstanden. Schnelle Artbildung ist also nicht einfach eine Eigenschaft von Cichliden.

«Ökologische Vielfalt kann die Entstehung einer grossen Artenvielfalt begünstigen», sagt Joana Meier, die als Postdoc an dem Projekt arbeitete – und relativiert diesen Erklärungsansatz gleich: «Günstige ökologische Bedingungen allein können aber nicht erklären, warum die Artbildung im Viktoriasee 10'000mal schneller ablief als in den meisten anderen Seen.»

Repräsentative Stichprobe

Schon in früheren Publikationen hatte Seehausens Team gezeigt, dass die grosse Buntbarsch-Radiation auf die Hybridisierung zweier verwandter Linien zurückgeht. Die beiden Linien kamen vor rund 150'000 Jahren nach langer geografischer Trennung wieder in Kontakt; und ihre Nachkommen wurden in der turbulenten Zeit bis zur Entstehung des Viktoriasees wohl noch wiederholt getrennt und erneut in Hybridschwärmen zusammengeführt.

Nun analysierten die Forschenden das Genom von 100 Arten der Viktoriasee-Radiation, welche die unterschiedlichen Gattungen, Lebensweisen und Körperbautypen der Buntbarsche repräsentieren. Sie verglichen es mit dem Erbgut von 20 Verwandten aus anderen Seen mit langsamen und mittelschnellen Artbildungsgeschichten sowie Daten zu sämtlichen Buntbarscharten aus Literatur und Datenbanken.

Statisten im Rampenlicht

Die neuen Daten zeigten eine Korrelation zwischen der Geschwindigkeit der Artbildung und der Zahl von Indels im Erbgut. Indels (aus «Insertion» und «Deletion») sind kürzere DNA-Sequenzen, die in einer Art fehlen können, während sie in nahe verwandten Arten in ein- oder mehrfacher Ausführung vorkommen; sie sind schwieriger zu entdecken als der Austausch von Basenpaaren (Punkt-Mutationen) und spielten in der Evolutionstheorie bisher eher eine Nebenrolle.

Im Erbgut des Viktoriasee-Schwarms mit der superschnellen Artbildung fand das Forscherteam tausende Indels. Bei den «langsameren» Linien aus anderen Seen kamen weniger dieser variablen DNA-Sequenzen vor; sie hatten sich offenbar langsamer im Genom angereichert, und zwar in dem Mass, in dem auch die Artbildung langsamer vor sich ging.

Potential mit Verfalldatum

Untersuchungen zur Funktion der Viktoriasee-Indels ergaben, dass auffällig viele mit Ernährung, Lebensraum- und Partnerwahl zusammenhingen. Das heisst, die Viktoriasee-Buntbarsche verfügten über ein Indel-Reservoir, das nicht nur gross war, sondern auch für die Artbildung wichtige Varianten bereitstellte – direkt über die Partnerwahl, indirekt über Spezialisierungen, dank denen die Fische neue ökologische Nischen erschliessen konnten.

Als die Hybridisierung zugleich auch die Punkt-Mutationen der beiden alten Linien auf vielfältige Weise neu kombinierte, entstand ein riesiges Potential unterschiedlicher Gen-Varianten und -Kombinationen.

In einer eintönigen Umwelt wäre dieses Potential wohl bald wieder verschwunden; denn brach liegende Erbgutvarianten gehen leicht verloren – sei’s durch Zufall, sei’s durch einseitigen Selektionsdruck. Doch der grosse neue Viktoriasee bot in den letzten 15'000 Jahren offenbar vielfältige ökologische Chancen, so dass die Fische auf einen Schlag hunderte unterschiedlicher Erbgutvarianten für neue, zum Teil sehr komplexe Spezialisierungen verwenden konnten.

So spezialisierten sich zum Beispiel die einen aufs Algenraspeln im klaren Wasser in Ufernähe, während andere ein besonders gutes Sehvermögen in den Lichtfrequenzen ausbildeten, das ihnen auch im tiefen, trüben Wasser die Jagd auf andere Fische ermöglichte – und das dank Genen, die schon viel früher auf diese Spezialisierungen selektioniert worden waren und deren Kopien die jungen Arten nach der Hybridisierung «pfannenfertig» übernehmen konnten.

Weil die Erbgutvarianten ihren Trägern lebenswichtige Spezialisierungen ermöglichten, blieben sie erhalten und konnten bei Hybridisierungen auch immer wieder neu kombiniert werden und so neue Artbildungen auslösen.

Ein neues Modell

«Wir haben angefangen, ein Evolutionsmodell zu entwickeln, das die Entstehung neuer Arten eher in Form von Netzen als von Stammbäumen beschreibt», sagt Ole Seehausen. «In diesen Netzen entstehen nicht nur neue Erbgutvarianten, sondern es wird auch immer wieder neues und altes Erbgut zwischen Arten ausgetauscht. Dadurch steht der Evolution jederzeit viel mehr genetisches Material zur Verfügung.»

Wie weit sich mit dem Modell auch unterschiedliche Artbildungs-Geschwindigkeiten bei anderen Fischen erklären lassen, untersuchen Forschende der Eawag und der Universität Bern nun unter anderem an der Felchen-Radiation, die seit der letzten Eiszeit in den Alpenrandseen entstanden ist.

Das Altern der Erbinformation

Für die Rekonstruktion von «Evolutionsnetzen» mussten die Autorinnen und Autoren der «Nature»-Studie das Alter der untersuchten Arten und das der ausgetauschten Erbinformation, in erster Linie der Indels, bestimmen.

Gewöhnlich werden Verwandtschaftsbeziehungen durch Ähnlichkeiten der Genomsequenz eruiert. Dieser Ansatz taugt aber bei sehr nahe verwandten Arten wenig. Das Mass für das Alter der Arten lieferte in diesem Fall die IBD (Identity by descent, Identität durch Abstammung): Bei jeder Fortpflanzung werden Teile des Erbguts neu kombiniert. Dadurch werden die Erbgut-Abschnitte, die bei allen Nachkommen noch identisch sind, von Generation zu Generation kürzer. Diese natürliche «Zerfallsrate» der IBD-Abschnitte nutzt die aktuelle Studie für die Altersbestimmung der Buntbarsch-Arten: Je kürzer die identischen Abschnitte, die zwei Arten gemeinsam haben, desto weiter zurück liegt die Trennung dieser Arten.

Das Alter der Indels im Erbgut der Viktoriasee-Buntbarsche wurde zusätzlich durch den Abgleich mit dem Erbgut anderer Buntbarsch-Arten abgeschätzt. Teilen die Buntbarsche aus dem Viktoriasee ein Indel mit einer Art in einem anderen Fluss-System, mit der sie nur sehr entfernt verwandt sind, muss das Indel sehr alt sein. – Oder aber, und hier geht es nicht ohne weitere Prüfungen, es ist durch Hybridisierung zwischen diesen Gruppen ausgetauscht worden.

Publikation:

Matthew D McGee et al. (2020). The ecological and genomic basis of explosive adaptive radiation, Nature. https://doi.org/10.1038/s41586-020-2652-7

Quelle: Eawag

26.08.2020