Porträts Gertraud Schüpbach

Porträts

Menschliche Faktoren versus wissenschaftliche Evidenz

Gertraud Schüpbach kennt sich mit Erregern aus, die von Tieren auf den Menschen überspringen. Die Tierärztin und Epidemiologin war daher nicht überrascht, ein Virus wie SARS-CoV-2 seinen Siegeszug um die Erde antreten zu sehen. Ein paar unerwartete Tricks hatte das Virus dann aber doch auf Lager.

Von Roland Fischer

Man erreicht Gertraud Schüpbach unter der normalen Büronummer. Nicht im Homeoffice? Nein, mit drei Kindern im Homeschooling wäre das Arbeitspensum daheim kaum zu schaffen. Man muss ja irgendwie weiter funktionieren, und für Schüpbach gilt das ganz besonders: Als Leiterin des Veterinary Public Health Instituts unterstützt sie mit ihrem Team die Schweizer Behörden mit Expertise und Auswertungen zum neuartigen Coronavirus. Als Expertin für Zoonosen beschäftigt sie vor allem die Herkunft des neuen Krankheitserregers.

Fake News, kritisches Denken und menschliche Faktoren

Auch so ein Fachbegriff, der plötzlich einer breiten Öffentlichkeit geläufig ist, wie «exponentielles Wachstum» oder «Contact Tracing». Zoonosen also: Krankheiten, die zwischen Tieren und Menschen übertragen werden. Dass SARS-CoV-2 spontan von einem Tier auf den Menschen übergesprungen ist, gilt als ausgemacht, egal was in obskuren Geheimdienstpapieren stehen mag. Wie geht eine Expertin damit um, dass vermeintliches Fachwissen plötzlich aus allen möglichen Quellen sprudelt? Die Frage macht Schüpbach hellwach, sie macht gleich den Link zu Fake News – in der Lehre versuche sie, die Studierenden dafür zu sensibilisieren: Was es mit diesen auf sich hat, dass sie erst auf dem Boden gesellschaftlicher Unsicherheiten so richtig spriessen. Die Unterrichtseinheit ist ihr wichtig, denn Informationen kritisch beurteilen zu können, hält sie für «die Grundlage des Lernens und des wissenschaftlichen Denkens». Sie weiss aber auch, dass rationale Fakten allein eine Situation wie die jetzige nicht zu beschreiben und zu lenken vermögen: «Menschliche Faktoren spielen eine fast noch grössere Rolle» als wissenschaftliche Evidenz.

Diese besagt immerhin, dass «das doch ein recht seltenes Ereignis war». Generell sei es ja nichts Neues oder besonders Beunruhigendes, dass ein Erreger vom Tier auf den Menschen überspringt – wie sie die aktuelle Krise in einen weiteren Kontext stellt, ist Schüpbach dann wieder ganz nüchterne Wissenschaftlerin. Das Coronavirus trifft uns deshalb so heftig, weil es gleich einige Qualitäten in sich vereint, die es besonders unkontrollierbar machen: dass es leicht übertragbar ist zum Beispiel, oder dass es schon ansteckend ist, wenn Infizierte keine Symptome zeigen. Solche Eigenschaften kann man sich vorstellen wie bessere oder schlechtere Karten in einem Deck. Viren können diese leicht austauschen – und mitunter hat eines dann richtig gute Trümpfe in der Hand.

«One Health»: Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt

Als Expertin für die Verbreitung von Antibiotikaresistenzen in zoonotischen Erregern kennt sich Schüpbach bestens damit aus, wie die Evolution die genetischen Karten immer neu mischt. Mit Coronaviren hatte sie in ihrer bisherigen Forschung zwar nicht zu tun, «aber die Mechanismen sind dieselben». Nun arbeiten Medizinerinnen und Veterinäre Hand in Hand, um die Coronakrise epidemiologisch in den Griff zu bekommen. Die Idee von «One Health», dass unsere Gesundheit sowohl Fachleute der Human- als auch der Veterinärmedizin angeht und ihr gegenseitiger Wissenstransfer auch Tieren und Umwelt dient, werde vermutlich einen grossen Schub erhalten: Der Austausch zwischen den beiden Disziplinen habe sich durch die Coronakrise intensiviert. Gertraud Schüpbach selbst hat ihre Ausbildung in Berlin gemacht und nur kurz als praktische Tierärztin gearbeitet. In die Schweiz gezogen hat sie ein Postdoc am Bundesamt für Veterinärwesen, von da führte der Karriereweg mehr oder weniger geradewegs zur Epidemiologin.

Als Expertin für neue Erreger weiss Schüpbach, dass Pathogene im Laufe der Anpassung an einen Wirt eher dazu neigen, sich abzuschwächen: «Ein Virus, das seinen Wirt schnell tötet, ist kein besonders kluges Virus.» Entsprechend empfiehlt sie in ihrem Bekanntenkreis «Vorsicht, aber ganz sicher keine Panik». Das Leben gehe weiter: «Es ist kein Weltuntergang.» Tatsächlich gehe es «für uns selbst ja meist um Luxusprobleme». Schüpbach ist sich bewusst, dass das nicht für die ganze Bevölkerung gilt: «Mir tun die Leute leid, die wirklich betroffen sind.»

Modellierungen, epidemiologische Voraussagen und Pandemiepläne sind ja das eine, die tatsächliche Realität einer Pandemie ist dann noch einmal etwas ganz anderes. Es ist noch nicht allzu lange her, da hat sie ein solches Szenario tatsächlich durchgespielt, in einer Krisenübung des Bundes. Kommt ihr also alles irgendwie bekannt vor, was in den letzten Wochen geschehen ist? Nicht ganz: «Den Lockdown hätte ich so nicht kommen sehen. Und auch nicht, dass die Situation in Europa ärger ausser Kontrolle gerät als in manchen südostasiatischen Ländern.» Mit dieser Überraschung war sie allerdings nicht allein. Ein bisschen Demut einem Erreger gegenüber, der ein wenig aus dem Rahmen der Erwartungen ausbricht: tut unserer westlichen Überheblichkeit sicher gut.

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Roland Fischer ist freier Wissenschaftsjournalist in Bern